2010

Michael Krüger – Laudatio zu den Verlagshäuser Matthes & Seitz Berlin und L’Arche Éditeur (Paris)

Kleine Verlage

In diesem Jahr sind zwei Biographien von Verlegern erschienen, die im 20. Jahr hundert Literatur- und Verlagsgeschichte geschrieben haben. Beide haben sehr klein angefangen. Der eine war ein bettelarmer Jude aus der Liptau, der in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts nach BerHn kam und binnen weniger Jahre durch harte Arbeit und offenbar guten Geschmack die erste Adresse in der deutschen Literatur wurde: Von Gerhart Hauptmann bis zu Richard Beer- Hofmann, von Hugo von Hofmannsthal bis zu Thomas Mann, alles drängte in seinen Salon, um von ihm in seinem Verlag oder in seiner Neuen Rundschau veröffentlicht zu werden. Erst nach dem Ersten Weltkrieg verlor dieser Samuel Fischer die unangefochtene Deutungshoheit in der deutschen Literatur, als selbstbewußt eine neue Generation von Verlegern auftrat, die sich mit dem deutschen Expressionismus Gehör verschaffen wollte - ihre prominenten Namen waren Ernst Rowohlt und Kurt Wolff, dessen Buchreihe „Der jüngste Tag" die
avancierte Literatur von Ernst Blass bis Franz Kafka präsentierte.

Heute gehört der Verlag, der immer noch stolz seinen Namen trägt, S. Fischer, zum Holtzbrinck-Konzern - unter dessen weitgespanntem Dach sich die Verlage Rowohlt, Rowohlt Berlin und Macmillan, Kiepenheuer & Witsch, Wunderlich, Farrar, Straus and Giroux, Kxüger, Scherz, Galiani, Droemer und Knaur, Picador und Noonday und St. Martin's Press und alle dazugehörenden Taschenbuchverlage, um nur ein paar wenige zu nennen, versammelt haben.

Die andere Biographie beschreibt das abenteuerliche Leben des russischen Juden Jacques Schiffrin aus Baku am Schwarzen Meer, der zur Zeit der Russischen Revolution über Genf und Florenz nach Paris kam und dort - unter äußerst armseligen Bedingungen - die „Pleiade" gründete, die edle kommentierte Klassikerreihe, die er später - mit Hilfe von Andre Gide und mit sich als Lektor - an die Edition Gallimard verkaufte, wo sie bis heute das oft kopierte, aber nie erreichte verlegerische Glanzstück geblieben ist: Wer in der Pleiade erscheint, ist wirklich unsterblich, was man von der Mitgliedschaft in der Academic Frangaise nicht behaupten kann.

Nach der Besetzung Frankreichs trennte sich Gaston Gallimard von den zwei bei ihm arbeitenden Juden. Jacques Schiffrin emigrierte in letzter Minute nach New York, wo er sich dem schon erwähnten, ebenfalls emigrierten Kurt Wolff anschloß und mit ihm den Pantheon Verlag gründete. Dieser Pantheon Verlag, dem später noch der Verlag für jüdische Literatur, Schocken, eingegliedert wurde, bis heute der Verlag von Kafkas Werken in Amerika, wurde später von Random House aufgekauft, der wieder eine Zeit später vom Bertelsmann-Konzern übernommen wurde. Unter dessen Dach befinden sich heute die Verlage Heyne und Alfred Knopf, Doubleday und Irisana, Vintage und Page and Turner, Manhattan und Nan
Talese und Times Books, Limes, Luchterhand, Goldmann, Manesse, die DVA, Blanvalet, Blessing, Siedler, Kösel, Mosaik, Prestel und viele, viele andere in Gott weiß wie vielen Ländern. Das ist natürlich nur die spitze des Eisbergs. Und anders als bei richtigen Eisbergen, die bekanntlich abschmelzen, nehmen diese Verlagseisberge an Umfang zu.

Nun wetden Sie fragen, wer eigentlich nicht zu diesen Giganten gehört, und die Antwort lautet natürlich, Piper, Carlsen, Malik, Ullstein, Classen, List, Propyläen, Pendo und einige andere, weil die nämlich zum schwedischen Bonnier-Konzern gehören, zu dessen sogenanntem Portfolio auch noch größere Anteile am gesamten skandinavischen Verlagswesen gehören. Auch dieser Konzern hat übrigens eine jüdische Geschichte - 1801 kam der aus Dresden gebürtige Gutkind Hirschel nach Stockholm und machte unter seinem angenommenen Namen Bonnier eine Leihbücherei auf. Als ich - notabene - im vergangenen Winter anläßlich der Nobel-Preisverleihung an Herta Müller den Portier des größten Stockholmer Hotels nach einer nahegelegenen guten Buchhandlung fragte, kam die schöne Antwort: Wenn Sie eine richtig gute Buchhandlung suchen, müssen Sie nach Göteborg fahren, aber Bücher kriegen Sie hier auch im Supermarkt.

Mit anderen Worten: Rund achtzig Prozent der in Deutschland verkauften literarischen und Sachbücher kommen aus drei ehrgeizigen Konzernen, die natürlich einerseits unterschiedliche Vorstellungen von Literatur, aber andererseits ähnliche Vorstellungen vom Gewinn haben, weshalb eben auch noch eine
erotische Reihe und eine spirituelle Reihe angegliedert werden müssen, eine Reihe, wie man Rad fährt und eine, wie man Salat wäscht, und wenn der eine Konzern mit Fantasy Geld macht, machen die anderen beiden auch Fantasy, und ehe der eine Marktführer beim Kriminalroman werden kann, bringen die beiden anderen ihrerseits ihre Krimis in Stellung - und weil eigentlich sowieso und überall auf der
Welt alles Krimi ist, ist es eigentlich auch egal, welcher Verlagsname draufsteht.

Das heißt; Es geht nicht mehr literarische Deutungshoheit, um Literatur, sondern um die Macht am Markt, und die Macht am Markt erreicht man durch teures Marketing, das nur den Konzernen zur Verfügung steht.

Nein, meine Damen und Herren, ich mache mich nicht lustig - schon gar nicht über meine Freunde in den gefühlten hundert eben genannten Konzern-Verlagen, von denen ja einige nicht nur in Konkurrenzdenken und Umsatzsteigerungs kämpfen verstrickt sind, sondern auch der Literatur unter all dem Schrott eine Bedeumng zumessen. Und außerdem bin ich auch ein kleines Rädchen in diesem
Betrieb, wenn auch ein altes, das bald ersetzt werden wird.

Wenn aber in diesem Literatur- und Verlagsbetrieb, der auf sein jährliches statistisches Wachstum so kindlich stolz ist, irgend etwas wirklich ausgezeichnet und laut gelobt werden muß, dann sind es die sogenannten kleinen Verlage. Sie leben unter der Wahrnehmungsschwelle der Konzerne und werden für jene nur dann interessant, wenn ihre Bücher im Feuilleton gelobt werden, weil sie dann als taschenbuchtauglich eingeschätzt werden. Gott sei Dank gibt es bei uns immer noch eine unabhängige Literaturkritik, die ihre Aufgabe ernst nimmt. Denn bei den Kleinen entdeckt man, was man bei den großen schon so lange vermißt: Die Dichtung, den gewagten Essay, die Literatur der sogenannten kleinen Sprachen, die spekulative Philosophie - kurz: alles, was Literatur auch noch kann, wenn sie gerade nicht mit Kitsch und Quatsch oder der Abfassung fast immer zu umfangreicher Romane beschäftigt ist. Da wir uns hier ja in einem deutschfranzösischen Club befinden, können wir deutlich werden: Die große französische Poesie der Gegenwart - von Ponge, Michaux, Char, Bonnefoy und Jaccottet bis hin zu den jüngsten - es gäbe sie nicht, wenn wir uns auf die literarischen Kenntnisse und Möglichkeiten der Konzerne verlassen müßten. Die großen strukturalistischen Denker — von Levi-Strauss über Roland Barthes und Michel Foucault bis hin zu Jacques Lacan - sind alle in unabhängigen Verlagen erschienen,
in diesem Falle in der Mehrzahl bei Suhrkamp, der mehr für die Geistesbrückenverständigung zwischen Deutschland und Frankreich getan hat als alle anderen zusammen. Und wenn ich mir das geisteswissenschaftliche Programm des kleinen Diaphanes Verlags in Stuttgart anschaue, dann weiß ich, wie einer der nächsten Preisträger dieser löblichen Gesellschaft hier heißen sollte. Mit anderen Worten, die kleinen und die unabhängigen Verlage sind für die wahren Literatur liebhaber die einzige Rettung. Während bei den großen Konzernen der am meisten geäußerte Satz lautet: Das können wir uns leider nicht leisten, weil die Grund kosten für die zu erwartende Auflage zu hoch sind, machen die kleinen Verlage das Buch. Sie machen es irgendwie, und es ist besser, nicht genauer nachzufragen. Klaus Wagenbach, auch einer der Unabhängigen, hat das Wort von der verlegerischen Selbstausbeutung geprägt: Erst kommt die Moral, dann das Fressen.

Um einmal ein Beispiel zu nennen: Die herrliche Ausgabe der Schriften des „Homers der Insekten", Jean-Henri Fabre, bei Matthes & Seitz - wo übrigens auch das Buch von Andre Schiffrin über seinen Vater Jacques erschienen ist. Dieser sprachbegabte Einsiedel vom Mont Ventoux, Jean-Henri Fabre, mußte nicht wie Petrarca sechshundert Jahre vor ihm den windumtosten Berg besteigen, um unsere Vorstellungen von Natur- und Landschaftswahrnehmung zu verändern, sondern hockte am Fuße des Ventoso in einer windgeschützten Nische, um das Verhalten und die Lebensgewohnheiten der winzigen Tiere, zum Beispiel der Schlupfwespe oder der Libelle, genauestens aufzuschreiben. Er gehört in die Reihe der großen Namrforscher wie Chamisso, Humboldt und Darwin, und er gehört in jeden Bücherschrank, der ein wenig stolz darauf ist, eben nicht nur der Träger der letzten Schinken der letzten Saison zu sein. Während die Franzosen mit großem Fleiß jede Zeile — und damit auch jede Zeile über Käfer, Insekten und Schmetterlinge — von Ernst Jünger Hebevoll übersetzt und kommentiert haben, war von Jean-Henri
Fabre bislang fast nichts auf deutsch zu lesen - mit Ausnahme eines SpHtters in dem winzigen Verlag „Friedenauer Presse" von Katja Wagenbach. Das heißt, daß mit dieser Ausgabe von Matthes & Seitz die naturforscherische Symmetrie zwischen den Ländern wieder ausbalanciert wird. Denn daß dank Andreas Rötzer neben all den Meisterwerken des Stumpfsinns, die normalerweise ohne Mühe die Sprachgrenze passieren, nun dieser gewaltige Naturbeschreibungskünstler deutsch zu lesen ist, läßt mein Herz höher steigen - und ich bin gespannt, welcher Konzern sich die Taschenbuchrechte sichern wird. „Dem Menschen" — heißt es bei Georg Simmel - „ist im Großen und Ganzen nicht zu helfen. Darum hat er die
wundervolle Kategorie des Trostes ausgebildet - der ihm nicht nur aus den Worten kommt, wie Menschen sie zu diesem Zwecke sprechen, sondern den er aus hunderterlei Gelegenheiten der Welt zieht" - aus Büchern wie denen von Fabre zum Beispiel.

Ein anderes Beispiel ist die große Warlam-Schalamov-Ausgabe bei Matthes & Seitz, eine Jahrhundertedition, die wenigstens in jeder SchulbibHothek stehen sollte - ob sie es in jede Buchhandlung geschafft hat, ist leider zu bezweifeln. Das hohe Risiko, dieses mehrbändige Gulag-Dokument der Schande übersetzen zu lassen, kann gar nicht hoch genug gerühmt werden. Das Argument der Großverlage lautet immer: Wir machen Kitsch, um uns die Qualität leisten zu können. Bei Matthes &
Seitz leistet man sich die Qualität, weil man den Kitsch nicht machen will. Dieses unbedingte Reinheitsgebot, wie es Andreas Rötzer treu befolgt, baut auf der Arbeit von Axel Matthes und Claus Seitz auf. Mit Matthes habe ich die Bank der Berliner Berufsschule gedrückt, ich habe bei Herbig gelernt, er bei Parey, beides Verlage, die nicht gerade für ihre Literarischen Leckerbissen bekannt sind. Ich ging anschließend nach London, er nach Paris, um die großen Außenseiter des französischen Denkens zu entdecken, die heute noch das Verlagsprogramm zieren; Artaud, Bataille, Blanchot, Leiris, Deleuze. Batailles „Theorie der Verschwendung" hätte ein Musterbuch der vergangenen Krise werden können.

In München habe ich Matthes wieder getroffen, wo er mit meinem Kollegen und Freund Claus Seitz, dem Herstellungs- und Ausstattungsleiter von Hanser, den Verlag aufbaute - immer hart an der Grenze zum Konkurs - und immer mit einem Selbstbewußtsein, daß man nur staunen konnte. Ich wünsche den neuen Verlegern, daß sie etwas entspannter und mit ein bißchen mehr Geld ihre Arbeit fortsetzen können. Auf jeden Fall gilt für sie nicht, was ich kürzlich in dem aufregenden, manchmal verrückten Buch „Realitäts Finsternis" aus dem Nachlaß von Eric Voegelin bei Matthes & Seitz gelesen habe: „Der moderne Mensch ist zum Langweiler geworden."

Auch Rudolf Räch, der andere hier zu ehrende Verleger, ist alles andere als ein Langweiler - ich glaube, er hat nicht einmal Zeit, sich selbst zu langweilen - und wenn er mal zeit hat, dann schreibt er Romane, die natürlich in dem unabhängigen Verlag Weiss Books erscheinen. Wer den Briefwechsel zwischen dem bedeutend sten europäischen Verleger des 20. Jahrhunderts, dem passionierten Siegfried Unseld, mit seinem gleichermaßen zum Wahnsinn wie zur Verleumdung neigenden Autor Thomas Bernhard gelesen hat, der wundert sich, daß Rudolf Räch nicht Anzeigenakquisiteur oder Nachtportier geworden ist. Denn dieser Briefwechsel ist eine hohe Schule der Demütigung, und gedemütigt werden nicht nur der heroisch und bis zulet2t den Autor verehrende Verleger, sondern auch dessen Mitarbeiter, wie zum Beispiel Rudolf Räch, der damals den Suhrkamp-Theaterverlag leitete und durch seine Arbeit es dem Autor überhaupt erst ermöglichte, immer neue Grundstücke um sein Haus herum zu kaufen, um in wirklich absoluter Ruhe sein bedeutendes Werk zu schreiben. Was Bernhard über Menschen, die sich für ihn anstrengten, sagte, geht auf keine noch so große österreichische Kuhhaut - es ist aber sicher nicht richtig, daß Rudolf Räch Bernhards wegen nach Paris flüchtete. Dort ist er jedenfalls 1986 angekommen und hat sich in den Verlag L'Arche gerettet, den er nun seit fünfundzwanzig Jahren leitet. Rudolf Räch ist einer unserer diskreten Außenminister, der mehr für das Ansehen deutscher Kultur in Frankreich getan hat als die letzten offiziellen Amtsinhaber. Wenn man das Namensregister nur der von ihm in Frankreich vertretenen deutschen Autoren Hest, bekommt man rote Ohren: Bärfuß, Bernhard, Dorst, Fassbinder, Frisch, Handke, Jelinek, Kroetz, Loher, Müller, Strauß, Wenders, um nur einige zu nennen, werden von Rudolf Räch an französische Bühnen vermittelt, viele von ihnen hat er in seinen Buchreihen auch  gedruckt.

In der Nachkriegszeit war der Theatertransfer zwischen Deutschland und Frankreich einseitig: Auf den großen deutschen Bühnen wurden die Stücke von Giraudoux, Anouilh, Claudel, Cocteau und Sartre gespielt, später das sogenannte Theater des Absurden, lonesco, Adamov, Beckett und Vitrac, während auf Frankreichs Theatern kaum ein deutscher Dramatiker heimisch wurde - sieht man von Brecht ab, der wiederum auf den großen westdeutschen Bühnen in den Zeiten des Kalten Krieges Berufsverbot hatte.

Rudolf Räch hat den Spieß umgedreht und mit großer Insistenz dafür gesorgt, daß nun umgekehrt die große deutsche Weltkomödie in Frankreich zur Aufführung kam. Und wer auch nur eine blasse Ahnung davon hat, mit welchen geradezu verkrampft-mafiosen Machenschaften die französischen Theatergewerkschaften die Bühnen im Griff haben, kann ermessen, welche nervenaufreibend unter
nehmerische Leistung Rudolf Räch erbracht hat.

Aber nicht nur das - mit Rudolf Räch sitzt nicht nur ein engagierter Verleger in der Arche jenseits des Rheins, sondern auch ein Intellektueller, dem es gelungen ist, den Diskurs, der um die deutschen Stücke von Heiner Müller bis Botho Strauß entstanden ist, in Frankreich zu vertreten und fruchtbar zu machen. Während die deutschen Philosophen Frankreich lange gemieden haben, um ihre Auffassung von Aufklärung nicht zu kompromittieren, haben die deutschen Dramatiker in Rudolfs Arche furchtlos dieser Auseinandersetzung ins Auge gebückt und damit eine Aufklärung über Aufklärung in Gang gesetzt. Diese Geschichte - in der Rudolf Räch eine große Rolle spielt - muß noch geschrieben werden.

Wenn ich den Preis, der heute an meine beiden Kollegen vergeben wird, richtig verstanden habe, soll er ein Ausdruck des Dankes sein, die französisch-deutschen, europäischen Literaturbeziehungen nicht dem Kapitalmarkt zu überlassen. Diesem Dank schließe ich mich mit ganzem Herzen an. Herzlichen Glückwunsch, felicitations!

(für Preisverleihung Berlin - 30. November 2010)