Tobias Bütow - Laudatio auf Floriane Azoulay und Studierendenprojekt
Akademie der Künste, Berlin, 15. September 2021
Charlotte war 26 Jahre alt, als sie starb. Wir kannten uns nicht. Wir lernten uns nie kennen. Und doch hatte sie Ihr deutsch-französisches Leben an mehreren Orten verbracht, die viele in Deutschland und Frankreich kennen und an denen auch ich lebte. Es gab geographische Überschneidungen, jedoch mit einer großen zeitlichen und folglich einer grundsätzlichen Differenz. Charlotte lebte und starb im kriegerischen Europa der Gewalt, des Verrates und des Zivilisationsbruchs.
Von Charlotte, der Künstlerin, die sich in unserem Kreis heute, in der Akademie der Künste, sicherlich wohl gefühlt hätte, hörte ich das erste Mal, von einem guten Freund. Bei meinem Abschied nach Frankreich erzählte er mir von Charlottes Stiefmutter, die er in Amsterdam, in den Niederlanden, kennengelernt hatte. „Eine feine, alte Dame mit Seidenhandschuhen und bürgerlich-berlinerischem Akzent.“ Es ereignete sich an einem spätsommerlichen Herbst-Tag, als ihre Stieftochter Charlotte verraten und verhaftet worden war. An einem 27. September, in Nizza. Jahrzehnte später, ebenfalls an einem 27. September in Nizza, wurde meine jüngste Tochter geboren. In der Straße, in der wir später in Berlin lebten, in Kreuzberg, befindet sich eine Grundschule, die Charlottes Namen trägt, die einzige Schule in Deutschland, die nach ihr benannt wurde. Natürlich kennen Sie sie: Charlotte Salomon.
In den Arolsen Archiven findet sich über Charlotte Salomon, diese einzigartige Künstlerin, die im 5. Monat schwanger war, als sie über Drancy deportiert in Auschwitz ermordet wurde, nur ein kursorisches Dossier. Eine Karteikarte, eine Deportationsliste. Auf Schreibmaschine getippt, heute digitalisiert. In Südfrankreich hatte Charlotte 1325 Zeichnungen oft in ihrem kleinen Zimmer in Villefranche sur Mer, geschaffen, innerhalb von nicht einmal zwei Jahren, nachdem sie in Gurs inhaftiert gewesen war. Eine „vielschichtige Komposition des Lebens einer Generation assimilierter deutscher Juden, die paradoxerweise dem Sterben abgetrotzt zu sein scheint.“ (Cilly Kugelmann) Wäre dieses Werk nicht im Keller eines Hauses in der Avenue Maréchal Joffre in Nizza gerettet und überliefert worden, bliebe uns von ihrer Biographie wenig mehr als die Karteikarte aus den Arolsen Archiven. Angaben im Telegramm-Stil, die nur verschlüsselt zu uns sprechen, die uns wenig von dem Menschen hinter den Schreibmaschinenbuchstaben erzählen: „V.e.r.h.“ Verhaftet.
Zwar war in Arolsen diese Karteikarte angelegt worden, weil jemand nach Charlotte in der Nachkriegszeit gesucht hatte, doch erinnerten sich in Deutschland, auch in Frankreich jahrzehntelang nur wenige an sie. Freilich in den vergangenen zwanzig Jahren folgten Ausstellungen, Veröffentlichungen und, ja, ein Bestseller-Roman. Doch bis dahin, war Charlotte für die breite Öffentlichkeit eine von mehr als 17,5 Millionen im Wesentlichen unbekannten Personen, die als NS-Verfolgte auf Karteikarten, Listen und Archivalien in den Archiven Deutschlands und Europas notiert, ja im Falle der Arolsen Archive verschlossen waren. Aus der Gegenwart betrachtet ist das Gestern in eine Welt der Vergessenen und eine Welt der Erinnerten geteilt. Charlotte gehörte lange Zeit zur Welt der Vergessenen, heute gehört sie zur Welt der Erinnerten.
Primo Levi, dessen Name ebenfalls auf einer Liste in Arolsen zu finden ist, schreibt in seinem Buch die „Untergegangenen und die Geretteten“:
„Die menschliche Erinnerung ist ein wunderbares, aber unzuverlässiges Instrument. (…) Die in uns schlummernden Erinnerungen sind nicht in Stein gemeißelt; sie zeigen nicht nur die Neigung, sich mit den Jahren zu verflüchtigen, oft verändern sie sich (…). Gewiss, Übung, das heißt in unserem Fall: häufige Vergegenwärtigung, hält die Erinnerung frisch und lebendig, genauso wie man einen Muskel leistungsfähig erhält, wenn man ihn oft trainiert; aber es ist ebenso wahr, dass eine Erinnerung, die allzu oft heraufbeschworen und in Form einer Erzählung dargeboten wird, dahin tendiert, zu einem Stereotyp (…) zu erstarren, abgelagert, perfektioniert und ausgeschmückt, die sich an die Stelle der ursprünglichen Erinnerung setzt und auf ihre Kosten gedeiht.“
Wir sind heute hier, um den Preis der Académie de Berlin des Jahres 2021 an mehrere Preisträger*innen zu vergeben – eine sich an der Universität gefundene deutsch-französische Studierendengruppe und eine französische Menschenrechtsexpertin. Beide Werke verbindet der digitale Ansatz als zukunftsgewandte Methode im Modus des vernetzten Erzählens. Stereotypen, Routinen empfehlen sich nicht. Die neuen Muskeln, die es zu entwickeln gilt, heißen Vernetzung und Digitalisierung. Wie gelingt es uns, die im Verlauf der Jahrzehnte gewachsene, ja erstrittene und heute noch immer mancherorts in Frage gestellte Erinnerungskultur für die Instagram-Generation zu übersetzen? Die Hemmnisse und Fliehkräfte von Erinnerung im 21. Jahrhundert sind vielseitig:
- Der Generationswechsel, bei wachsender zeitliche Distanz zum historischen Ereignis.
- Das Sterben der Überlebenden, zumal während der Pandemie. Die Gedenkstätte Flossenbürg geht von 80-90 noch lebenden Überlebenden aus. Viele Gedenkstätten in Deutschland wie in Frankreich arbeiten mit einer kleiner und kleiner werdenden Gruppe an Überlebenden zusammen.
- Eine dynamische Einwanderungsgesellschaft, die in Dörfern wie in Städten durch ergänzende, bisweilen miteinander konkurrierende familiale Gedächtnisse geprägt ist.
- Monatelang infolge der Pandemie geschlossene Erinnerungsorte und Schuljahrgänge ohne Gedenkstättenbesuche.
- Und die Digitalisierung, die nicht nur Chance ist, nein, sie bietet auch den altbekannten Phänomenen der Amnesie, der Negationsreflexe und des Rechtsextremismus einen neuen modus operandi.
Der Podcast „Französische Stimmen zu Gehör gebracht“ ist eine deutsch-französische studentische Gruppenarbeit der Universität Regensburg in Zusammenarbeit mit dem Bayrischen Rundfunk und unterstützt von der Gedenkstätte Flossenbürg. Das zweisprachige Hörspiel zeigt beeindruckend in 150 Minuten wie sich an einem Ort der formellen Bildung, in einem normalerweise in ein Semester gequetschtes Hochschulseminar, über einen fast einjährigen Zeitraum engagierte junge Menschen aus Deutschland und Frankreich – aus den Universitäten Regensburg und Clermond-Ferrand - engagieren, sich wissenschaftliche Erkenntnisse in einem gekreuzten Blick aneignen, Archivakten, aus Arolsen, aus Flossenbürg, auswerten, Schreibmethoden erlernen, Erzähltechniken erproben, Texte entwerfen und z.T. übersetzen sowie höchst professionell als Laiensprechende den Überlebenden – Funktionshäftlinge oder Widerstandskämpfer, Männer oder Frauen, jung oder alt – ihre Stimme zu leihen. Die Studierenden aus Deutschland und Frankreich eignen sich nicht nur die Perspektive des anderen Sprach- und auch Erinnerungsraums an, ja, sie präsentieren die Perspektive der Überlebenden. Intergenerationeller Dialog im Zeitalter der Digitalisierung.
Doch hören Sie selbst in den Podcast, was Studierende wie Céline Via und Theresa Oberhauser und ein weiteres Dutzend an Autorinnen und Sprecherinnen unter der Leitung von Prof. Isabella von Treskow, kompakt, bewegend, mitreißend, verstörend, erklärend, musikalisch umrahmt synthetisieren. Wir hören von Odette, Eliane, Louis oder Henri. Von einem Bauernhof, der in ein KZ umgewandelt wurde, dem Blick der neuankommenden Häftlinge auf die „lebenden Gerippe“, einem Weihnachtsfest, an dem die Lager-SS ihre „absolute Macht“ dem Publikum der Gefangenen demonstrierte, vom Tag für Tag-Überleben, von der Befreiung.
Geografisch richten die Studierenden den Blick, ja, auf die Oberpfalz, auf Flossenbürg, aber auch auf Böhmen und Sachsen – auf mehrere sogenannte „Außenlager“ dieses Lagerkomplexes. Denn anders als es das Bild der vermeintlich hermetisch abgeschlossenen „Lager irgendwo im Osten“ lange Zeit nahelegte erstreckten sich krankenartig die Lager über das Gebiet des Deutschen Reichs, mit mehr als 1.200 solcher Konzentrationslager-Tatorte, die je länger der Krieg dauerte, mehrheitlich von ehemaligen Wehrmachtssoldaten, von ganz normalen Männern und Frauen, bewacht worden waren. Doch diese Orte waren keine Nebenlager im Sinne von Nebenschauplätzen, nein, es waren kleinformatige Konzentrationslager in der Nachbarschaft. Das Lagersystem diffundierte in die Gesellschaft. Vor aller Augen.
Danke für Ihre Arbeit, chère Céline Via, liebe Theresa Oberhauser und liebe Isabella von Treskow. Wir ziehen hochachtungsvoll unseren Hut. Ihr Engagement ist Inspiration und Vorbild.
Als ich Florian Azoulay unlängst um einen Spaziergang bat, unser erstes Treffen „en vrai“, schlug sie als Treffpunkt die Rosenstraße in Berlin-Mitte vor. Jener Erinnerungsort, der von der Stärke der Frauen und der Gegenmacht des aufrechten Widerspruchs erzählt, von jenen Frauen, die in Lebensgefahr ihre Lebenspartner versuchten zu retten - und denen die Rettung gelang.
Nachdem Floriane Azoulay u.a. in Deutschland für die Stabsstelle des französischen Premierministers der „Commission pour l’indemnisation des victimes de spoliations“ arbeitete, leitete die Menschenrechtsexpertin neun Jahre von Warschau aus die Toleranz- und Nichtdiskriminierungsabteilung der OSZE. Seit 2016 ist sie die einzige französische Leiterin eines bundesweit sichtbaren Erinnerungsortes in Deutschland. Die Arolsen Archive sind als „lieux de mémoire“ viel zu lange Zeit nur einer Fachöffentlichkeit bekannt gewesen. Es ist eine „Organisation internationalen Charakters“ mit elf Mitgliedsstaaten, die das „weltweit umfassendste Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus“ beherbergt, seit vielen Jahren Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Seit 2016 bringt Floriane Azoulay mit ihrem Team dieses Archiv zum Sprechen, sie gewinnen eine kontinuierlich wachsende Anzahl an Freiwilligen, erreichen erfolgreich junge Menschen und testen innovativ und, ja, mutig, die Zukunft der Erinnerung, des Lernens und des vernetzten Engagements.
Die Projekte der Arolsen Archive sind in der Gegenwart verortet. Sie sind berührend, sie brechen mancherorts die routinierte Erinnerungspraxis auf, sie positionieren sich auf Marktplätzen oder laden dazu ein, die Privatsphäre, den eigenen Computer, mit einem Mitmach-Archiv – ja, einem digitalen Denkmal - zu vernetzen. Junge Menschen, die Tiktok- und Instagram-Generation, die politisch sicher nicht weniger interessiert ist, als ihre Vorgängergenerationen, haben in unserer multimedialen Welt nur bedingt Lust auf klassische Lerneinheiten im 45-, 60- oder 90-Minunten-Format.
Mit dem Projekt „Stolen Memory“, unlängst mit dem Grimme Online Award für die Internet-Präsentation ausgezeichnet, geht Floriane Azoulay mit ihrem Team dorthin, wo die Gedenkrituale der Hauptstadt weit entfernt sind. 3 Übersee-Container sind auf Reisen gegangen, die die „Effekten“, den letzten, verbliebenen persönlichen Besitz von Verfolgten, aus der Welt des Vergessens heben und versuchen, diesen „gestohlene Erinnerung“ den Familien der Angehörigen zurückzugeben. In hunderten Fällen ist dies bereits gelungen. Ringe, Uhren, Füllfederhalter oder Portemonnaies mit Fotos, begleitet von einer starken breitenwirksamen Öffentlichkeitskampagne. Bis Ende 2022 ist diese mobile Freiluft-Ausstellung bereits ausgebucht. In Leonberg in Baden-Württemberg beispielsweise wurden in diesem Sommer innerhalb von 10 Tagen mehr als 1.000 Besucherinnen und Besucher erreicht.
Das Projekt #EveryNameCounts ist technisch, kulturwissenschaftlich und erinnerungsdidaktisch ein Meilenstein. Das Projekt verknüpft zweierlei Stränge: zum einen eine jüdische Erinnerungspraxis an die Shoah, an die von Yad VaShem entwickelten Gedenkblätter, um den Opfern der Shoah ihren Namen zurück zu geben. Zum anderen die Methode der Citizens Science, der Bürgerwissenschaften, d.h. der kollektiven Indizierung von Akten, von Listen, von Informationsträgern der Vergangenheit über die mehr als 17,5 Millionen NS-Verfolgten, mithilfe von Engagierten, mithilfe eines kontinuierlich wachsenden Netzwerks. Mehr als 10.000 Freiwillige arbeiten bereits ehrenamtlich an der Erfassung der NS-Verfolgten mit. Auch Sie können sich engagieren! Ein digitales Mitmach-Denkmal, ein Archiv im besten Sinne einer offenen Gesellschaft.
So wird ein Archiv zum Sprechen gebracht. Der Mensch steht hier im Mittelpunkt – der Mensch, an den erinnert wird. Aber auch der Mensch, der erinnert. So entsteht in Deutschland, Frankreich und, aufgrund der Nachkriegsbiographien der Überlebenden, weltweit ein einzigartiges Erinnerungsnetzwerk, welches es Familien, Vereinen, Schulen, Universitäten, Dörfern und Städten ermöglicht auch vor Ort, in ihrer Familien-, Lokal- oder Regionalgeschichte, den Zivilisationsbruch neu zu erzählen, um ihn in der Kakophonie des 21. Jahrhunderts zu bewahren.
Möge es gelingen, dass dieses grenzenüberschreitende, bürgerschaftliche Netzwerk, das sich einem Schneeball-Effekt gleich zusammenfindet und dessen Knotenpunkt die Arolsen Archive bilden, viele Odettes, Elianes, Louis, Henris oder Charlottes in unsere Gegenwart holen. So stellen wir Parallelen ungleicher Biographien fest, so entwickeln wir Bezüge zu Menschen, die zu anderer Zeit dort lebten, wo wir leben. Damit der Muskel der Erinnerung immer wieder neu trainiert und weiterentwickelt werden kann. Denn nur dann, nur dann ist unsere Demokratie stark und resilient.
Im Namen der Académie de Berlin: Félicitations! Der Applaus gehört Ihnen.