Prof. Christina Weiss – Laudatio auf Georges-Arthur Goldschmidt
1904 schrieb Franz Kafka an seinen Freund Oskar Pollak: „Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?“ Und es folgt der berühmte Satz: „Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“.
Für Georges Arthur Goldschmidt sind dies Schlüsselsätze, er hat seine Befreiung durch die Literatur gefunden. Durch die Entdeckung der literarischen Sprache bahnte er sich den Weg zur Selbstfindung. Die Faust im Mund des Gemarterten kann nur den Wörtern weichen, die sich dem Unsagbaren annähern und das Geballte, Verknotete aus dem tiefsten Inneren herausschreien, herausschreiben. Der Prozess der Selbstfindung war Für Georges Arthur Goldschmidt langwierig und voller Schmerzen, aber ein Prozess mit befreiendem Ausgang. Er schreibt: „Ich war schuld an meiner Unschuld, an diesem Tatbestand einer Schuld ohne Schuldhaftigkeit. Ich hatte niemandem etwas getan und war dennoch schuldig. Dagegen konnte man sich nur die Faust in den Mund stecken oder seine Verzweiflung hinausbrüllen, sonst erstickte man daran. Die ganze Kindheit war nichts als Schreien, Wüten, Zerrissenheit und Überstürzung. Diese unsägliche Schmach, wissentlich von den Erwachsenen auferlegt, führte zu einer ausweglosen Situation, in der ich noch nicht ahnte, daß sie zu einer unerschütterlichen Unabhängigkeit führen konnte. Ich bin, euch zum Trotz.“ In dieser Passage fasst er Leiden, Ringen um Begreifen und aufmüpfige Selbstbefreiung zusammen, in die ihn seine Biographie gezwungen hat. Er schont sich nicht bei der Erinnerung an Wahrgenommenes, Gefühltes, Erlebtes, er schont auch seine Leser nicht, wir werden Zeugen seiner qualvollen Entblößung seiner selbst und seiner gnadenlosen Bloßstellung derjenigen, die ihn gedemütigt haben. Er lässt uns zu Zeugen seiner Biographie werden, zerrt alles vor unsere Augen und in unser Nachdenken, zugleich aber verführt er uns auch mit der poetischen Intensität seiner Sprache, mit seinen literarischen Texten macht er uns zu Mitwissern, prangert unsere Ahnungslosigkeit an, gibt uns die Chance zum Staunen über einen mit aller Kraft eines Heranwachsenden geführten existentiellen Kampf, weckt Verwunderung, Bewunderung und tiefe Sympathie.
Georges Arthur Goldschmidt hat auch eine Autobiographie geschrieben, auf Drängen seines Verlegers, er hat uns jenseits seiner Erzählungen die ganze Geschichte seines Lebens offenbart – das, aber, was er in seiner Literatur preisgibt, ist mehr, weil es uns als Lesende einbindet, nicht in die Distanz der fremden Biographie entlässt, sondern die Literatur Goldschmidts fordert uns heraus, ein fremdes SichPreisgeben beobachtend uns selbst zu beobachten – die erzählten Texte packen uns am Schlafittchen und entlassen uns nicht aus der sehr persönlichen Stellungnahme zu der fremden Geschichte, die uns mit der eigenen Reaktion konfrontiert. Dennoch zur Biographie: Geboren 1928 in eine jüdische Familie in Reinbek bei Hamburg, wächst das Kind in gutbürgerlicher Umgebung auf, die Familiengeschichte ist die Geschichte assimilierter Juden, sie waren in Deutschland integriert, lebten in Deutschland als Protestanten und machten sich die extremsten Formen des Nationalismus zu eigen. 1938 allerdings setzten die Eltern Goldschmidt den Zehnjährigen – damals hieß er noch Jürgen Arthur – in den Zug, um ihn vor der Bedrohung in Deutschland zu retten. Über Florenz kam er in die französischen Savoyen. Dort wurde er im Internat verborgen, von den Deutschen gesucht, bei Bauernfamilien wiederum versteckt und gerettet. Die Todesangst war ständiger Begleiter des Kindes Georges Arthur Goldschmidt. Das Kind hatte schon in Deutschland begriffen, dass es einer Schuld bezichtigt wurde. Es war die Schuld der falschen Geburt, die Nazis hatten den Jungen erst zum Juden gemacht, obwohl er doch protestantisches Kind war. Er hatte seine Schuld als Kind nicht richtig begreifen können, er spürte die diffuse Angst der existentiellen Bedrohung, ohne genau zu wissen, weshalb man ihn anklagte. Er war Jude und deshalb schuldig, obwohl er sich keiner Schuld bewusst war – es sei denn – da beginnen die Gewissenbisse des Kindes - der Schuld, sich selbst berührt zu haben, was den sexuellen Tabus des Bürgertums dieser Zeit unterlag und als das Böse schlechthin bestraft wurde. Der Junge hatte sich schuldig gemacht, ohne dass man ihm gesagt hätte, wodurch. Er musste seine Schuld selbst erahnen – erfinden. Er hatte voller Lust und Erregung in einem Bildband aus der Bibliothek des Vaters eine Farbtafel mit dem Heiligen Sebastian von Antonello da Messina mit Lust angeschaut. Dies war für ihn ein Urerlebnis, das ihn bis ins Tiefste verwirrte – mit der ihm eigenen Ironie kann er an dieser Stelle seiner Autobiographie sogar noch darauf hinweisen, dass Kinder vor großer Kunst geschützt werden sollten, deren Erfahrung lebenserschütternd wirken kann, man solle sie lieber vor den Fernseher setzen, wo die Seichtheit der dargebotenen Gefühle sie kaum im Innersten berühren kann . Das Kind, das er war, musste seine Schuld selbst erfinden, weil er sonst nicht hätte begreifen können, warum man sich von ihm abwandte, welchen Makels man ihn bezichtigte. Er konnte nur gefühlsmäßig spüren, dass etwas ihn schuldig machte. Die Beziehung zur Mutter war dementsprechend schwierig, er traktierte sie mit Wutanfällen, wie er in der Autobiographie schreibt: „Meisterwerken an Bosheit und Zynismus“ – erst wenn die Tränen kamen, konnte seine Mutter ihn wieder zärtlich in die Arme nehmen. Er wütete aus Sehnsucht nach Zuwendung und Liebe. Dann kam mit vielen dunklen Andeutungen der Abschied, der sich dem zehnjährigen Jungen einfraß. Niemals wird er die Bilder des Abschieds vergessen, und doch muss er dagegen vorgehen, um nicht an Heimweh zugrunde zu gehen. Das Heimweh muss über die Jahre hinweg überdeckt werden, Goldschmidt erfindet dafür das wunderbare, herzzerreissende Wort „Heimwehschutz“, das zum Leitmotiv wird. Georges Arthur Goldschmidt wird zum Meister des Heimwehschutzes vielleicht auch deshalb, weil sein Vater, ein Hobbymaler, ihn das Sehen gelehrt hatte als Fähigkeit sich zu wundern. Er lehrte ihn, „den Blick sich ganz von dem einfangen zu lassen, was er gerade sah. Er lehrte mich unbeweglich zu bleiben, bis der Name der Dinge verschwinde und davon nur die Formen und Farben blieben, womit das Wunder beginnt.“ , er lehrte ihn, „daß alles einen anderen Blick verlangt, daß für jedes Ding, das man sieht, der Blick etwas anderes entdeckt, daß es für alles einen geeigneten Blick gibt.“ Diese Fähigkeit des intensiven Blicks, der konzentrierten Wahrnehmung, hat dem Kind das Leben gerettet. Dieses genaue Schauen, die Fähigkeit, zu Fühlen und sich gleichzeitig beobachtend vom Erleben zu distanzieren, hat das Kind und den Jugendlichen Goldschmidt befähigt, die Demütigungen, die das Leben für ihn bereit hielt, zu ertragen und sich zugleich aufmüpfig in eine innere Unabhängigkeit zu retten, die ihm die Chance des Ich-Seins bereitete. Er begriff, dass sein Denken frei sein musste, dass niemand ihm sein Denken vorschreiben dürfe. Man konnte ihn demütigen, man konnte ihn strafen, aber nie wollte er sich abhängig machen von vorgegebenen Denkinhalten. Wir erfahren aus seinen Büchern, dass die Freiheit des Subjekts im Recht auf das eigene Denken und Nachdenken liegt, dass es existentiell wichtig ist, sich keine fremden Gedanken - nichts - aufdrängen zu lassen, um vor sich selbst bestehen zu können. Was für ein Glück, das zu lesen, was für ein Glück, das für sich in Anspruch nehmen zu können! Georges Arthur Goldschmidt durfte die Erfahrung machen, dass mutige Menschen ihn in Frankreich schützten, versteckten und retteten, vor dem Tod retteten, ihm aber auch die Chance zum selbstbestimmten Denken gaben. Französisch wurde für ihn die Schutzsprache, unter der er die Muttersprache Deutsch bewahren konnte. Aber er brauchte lange, um zur Sprache seiner Kindheit zurückzufinden, die ihm von Anfang an im Leib steckte. Er musste sie aufdecken. Die französische Sprache half ihm dabei. Das Verdrängen der Bilder aus der Heimat, ihre Überdeckung, aber auch die Sprachsperre der Muttersprache gehörten für das Kind zum System Heimwehschutz. Den Schmerz, verlassen, verstoßen worden zu sein, musste es wegdrängen. In Frankreich hatte sich Georges Arthur Goldschmidt, der bis heute in Frankreich lebt, geschützt gefühlt, die Menschen, die ihn aufgenommen haben, ihre fremde Sprache, die zu seiner wurde, halfen beim Wegzaubern der schmerzlichen Erinnerung an die Heimat. Allerdings blieb die Muttersprache verdeckt bewahrt, auch wenn Georges Arthur Goldschmidt aus Scham über seine Herkunft darauf hoffte, sie vergessen zu können. Er ließ die französische Sprache in sich eindringen, aber die Muttersprache steckte tief in ihm. Bitter liest sich sein Blick auf die Spaltung beider Sprachen in ihm: „Unter der Sprache der Zuflucht also lebte die andere Sprache fort. Die Sprache, die man im Leib hatte und durch die man die ersten Eindrücke empfing, den Kuckucksruf, das Knarren der Karrenradnaben, die Stimmen der Eltern, das Säuseln des Windes, die ersten Lügen und die ersten Verzückungen – die Muttersprache, diese innig geliebte Sprache hatte alles begleitet….
Aus dieser Sprache war der Wesensstoff meiner Seele, und gerade sie wurde mir untersagt, durch sie wurde ich angewiesen, zu verschwinden, ein unnützer Esser, ein zur Vernichtung bestimmter Schmarotzer.“ Die Nazis hatten ihn zum Juden gemacht, die Nazis hatten seine Sprache, seine geliebte Sprache vergiftet, indem sie aus ihr die Wortkonstrukte formten, die zum Instrument der Vernichtung werden konnten. Die geliebte Muttersprache war wie die Heimat geschändet und verdorben.
Georges Arthur Goldschmidt wurde aus dieser Zerrissenheit zwischen seinen beiden Sprachen heraus zum brillanten Essayisten in der Analyse der Sprachen: wie wirken sie auf den Sprechenden, wie gewichtet die jeweilige Sprache Begriffe, Wahrnehmungen und Gefühle für den, der in ihr seinen Ausdruck sucht. Wie hat die Entwicklung der Gesellschaft die Sprache geprägt und wie hat die Sprache in die Entwicklung der Gesellschaft gewirkt, das sind Fragestellungen, die sich der Essayist Goldschmidt immer wieder stellt. Hinreißend spannend zerpflückt er das Französische und das Deutsche in zwei Bänden, die ihren Ausgangspunkt nahmen, als Goldschmidt hinzu gebeten wurde, die französische Übersetzung von Freuds Werken, zu begleiten. Er bleib nicht lange bei der Arbeitsgruppe, weil er – so berichtet er – so viel lachen musste, was die Ernsthaftigkeit der Übersetzergruppe störte. Wenn wir die beiden Bände lesen, steckt er uns mit seinem Lachen an. Selten hatten wir die Chance, der Verschiedenheit der beiden Sprachen so auf die Schliche zu kommen. Es sind die Bände: „Als Freud das Meer sah“ (Zürich 1999) – „Quand Freud voit la mer“ (Paris 1988) und „Freud wartet auf das Wort“ (Zürich 2006) – „Quand Freud attend le verbe“ (Paris 1996). Die Bücher wurden in Frankreich mit Euphorie aufgenommen, die Übersetzung dauerte jeweils zehn Jahre – das spricht für sich – natürlich geht es hier um die Aufdeckung spitzfindiger Raffinessen der jeweiligen Sprachgebilde. Mir als Sprachliebende hat die Lektüre auch eine gewisse Bitterkeit vermittelt, so deutlich werden einem die Makel der deutschen Sprache als Ergebnis der provinziellen deutschen politischen Entwicklung selten vorgeführt. Die Sehnsucht nach der Eleganz der französischen Sprache wird groß, nach der Sprache, die Goldschmidt immer wieder mit Liebeserklärungen bedacht hat, wie etwa in folgendem Zitat: „Das Französische versöhnte die Dinge durch die Verschmelzung der ineinandergleitenden Worte zu einer Tonlage, die das schrecklichste Grauen mit dem Glanz der Sprache verhüllte, und erlaubte mir, das wohlbekannte Muster in seine feine Liebenswürdigkeit zu verweben. Es war wie ein mit Goldfäden besticktes Tuch aus dunkelblauem Samt, das man über alles warf, was man nicht sehen wollte, während das Deutsche sich niemals scheute, das Schlimmste zu zeigen.“ Die beiden Sprachen gehen völlig anders auf die Realität zu, das Deutsche „offener“, das Französische „verhaltener“ „mit mehr historischer Geschliffenheit“.
Und liebevoll versöhnlich führt Goldschmidt dann die Verschiedenheit der Sprachen auf den Mythos vom Turm zu Babel zurück: die verschiedenen Sprachen sind eine fragmentierte Einheit. Er läßt die babylonische Sprachverwirrung zum Bild für die Unerschöpflichkeit der Varianten des Sagens werden. Die eine Sprache spricht aus, was die andere verschweigt. Die Leerstellen zwischen den Sprachen lässt sie wie dazu gemacht sein, miteinander zu sprechen. Was für eine Verarmung, wenn die Sprechenden, die nach Sprache ringen, auf eine einzige Sprache angewiesen sind! Das, was wir mit einem internationalen Englisch – unserem abgeplatteten Business English - anstreben, will diese fruchtbare babylonische Klitterung, die zusammen ein wundervolles Ganzes ergibt, wieder zusammenkitten. Was für einen Verlust fügen wir damit uns selbst zu, indem wir den Versuch unternehmen, die für Goldschmidt Sprachreichtum erzeugende babylonische Sprachverwirrung rückgängig zu machen! Auch wenn es vielleicht für die globale Verständigung nicht anders zu gehen scheint – darüber nachzudenken muss erlaubt sein. Die Kreativität des Denkens aus der Verschiedenheit der Sprachen heraus muss verfügbar bleiben.
Freud und die Sprachbezogenheit seiner Psychologie der Menschheit geben Goldschmidt Anlass zum Nachdenken über die raffinierten Differenzen der Sprachen.
Er verleiht Freuds Unbewußtem die Metapher des Meeres: unter der Oberfläche lässt sich vieles absenken, was aber aus der Tiefe zwangsläufig immer wieder auftaucht. Die Wiederkehr des Verdrängten ist unvermeidbar. Freuds Arbeit zielt darauf, „der Sprache ein Geständnis abzuringen“, „dem Ungesagten eine Stimme zu geben, um es zur Sprache zu bringen.“ Die Übersetzbarkeit zwischen Deutsch und Französisch scheitert - und die Beispiele erzählen viel – z.B. an Gründlichkeit, dem Unheimlichen oder der Weltanschauung. Wo das Französische mit seinem symbolischen Wortschatz intransparent bleibt, öffnet sich das Deutsche in völlige Durchsichtigkeit der Vokabeln. Ich zitiere Goldschmidt: „Der Leib ist das Lebendige selbst, das Leben, wie es leibt und lebt; der Leib (le corps) ist etwas ganz anderes als der Körper (le corps), der dem lateinischen corpus entsprungen ist, der organische Körper und auch der Lehrkörper, le corps de métier, die Körperschaft. Der Leib dagegen ist der Körper, der ich bin, mein Leib und Leben. Die Sprache ist ihm eingepflanzt, unaustilgbar. Es gibt wirklich kein größere Dummheit, als vom abstrakten Charakter des Deutschen zu reden: Kein andere Sprache ist so konkret, so räumlich.“ Beim Vergleich des Deutschen mit dem Französischen wird deutlich, dass das Deutsche bis in sein Innerstes an die Gebärden und Begierden des Körpers gebunden ist…man spricht mit dem Brustton der Überzeugung.“ Und: „Im Deutschen herrscht eine Art Urwüchsigkeit… von sich selbst ausgehend, baut das Deutsche seine zusammengesetzten Wörter, überaus und allgemein verständlich.“
Köstlich ist Goldschmidts Analyse der Vorsilbe „ver“, die ich hier nicht darstellen kann, ich kann nur auf ein wunderbares visuelles Gedicht des Österreichers Heinz Gappmayr verweisen: Das Gedicht zeigt ein schwarzes Quadrat, in dessen linker oberer Ecke, also in Leserichtung die Buchstaben der Vorsilbe „ver“ mit altmodischer Schreibmaschine getippt zu entziffern sind. Die Vorsilbe „ver“ geht über in die schwarze Verdichtung der unendlichen Vielfalt der Vorsilbe „ver“ in der deutschen Sprache, alle ausdenkbaren Wörter, die mit der Vorsilbe „ver“ beginnen, scheinen durch das schwarze Quadrat hindurch oder, wenn sie so wollen, aus dem Verdichtungsquadrat herauszuquellen. Nur zu Inspiration Ihrer Phantasie will ich aus Freuds Analyse der Fehlleistungen ein paar der deutschen Wörter mit der Vorsilbe „ver“ nennen: verdrängen, versprechen, verlegen, verhören, verlesen, verblenden, verraten und so weiter.
Georges Arthur Goldschmidt spitzt seine Analyse der deutschen Sprache dem Impuls seiner Biographie folgend fast zwangsläufig zu auf die in der Sprache und der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung angelegten Gründe, die letztlich zum Nationalsozialismus führen konnten beziehungsweise musten. Es beginnt für ihn bei Luther und der protestantischen Bewegung, die das Kindliche mit dem Germanischen, Einfalt mit Deutschheit verbunden hat.
„Die Schlichtheit und Treue, Naivität und Reinheit des Kindes wurden als grundlegende Attribute des Deutschtums angesehen. Das ist eine der Quellen des „Rassismus“: die kollektive Übertragung des Infantilen, zu dem die deutsche Sprache angeblich zurückführt.“ Ebenso analysiert er aus der deutschen Romantik eine Besessenheit vom Ursprünglichen, Unversehrten, die den Blick auf die Realität verschiebt. Es begründet sich ein Gutmenschentum im Rekurs auf die Kindheit als das Reine, Unverdorbene. Für die Nazis ging es ebenfalls um das Ausmerzen von allem Unreinem, in ihrem Sprachgebrauch von „Ungeziefer“. In Deutschland konnte die politische Unreife, das Politikverbot den Rückzug auf die sogenannte Weltanschauung und die Sehnsucht nach der verlorenen Kindheit zu einer eigenartigen „Vermischung des Politischen mit dem Infantilen“ führen. Deutschland war viel zu lange in kleine – ländlich idyllische - Einheiten aufgespalten, das konnte einerseits zu einem fatalen Gehorsam der Obrigkeit gegenüber führen als auch andererseits die Idee einer sinnlich-emotionalen Einheit von Gemeinschaft entstehen lassen, wie der Blick auf die Wandervogel-Bewegung besonders deutlich aufzeigt. Ein solcher Gemeinschaftsbegriff behinderte die Entwicklung einer Gesellschaft im politischen Sinne, einer Gesellschaft, über deren Grundlagen verhandelt wird.
Der Essayist Goldschmidt gelangt zu diesen reifen Einblicken in die Strukturen seiner geliebten Muttersprache und zu Antworten auf die Fragen, die uns alle betreffen, wie nämlich in Deutschland – der Kulturnation Deutschland – diese Vernichtungsmaschinerie der Nazis entstehen und bestehen konnte.
Für Goldschmidt war es ein weiter Weg bis er zu diesen Sprachanalysen gelangen konnte. Er musste sein Exil überleben und bewältigen. Er musste den Weg zu sich selbst bahnen und seine Sprache in sich retten. Existenz und Sprache waren ihm verboten worden, er hatte überlebt, er lebte seinen Verfolgern zum Trotz. Und seine Sprache war ihm im Leib eingeschrieben, sie konnten sie in Deutschland missbrauchen und schänden, seine Sprache war bei ihm in seinem Schweigen unter der Schutzsprache Französisch sicher bewahrt. Er hatte sie ins Exil gerettet wie Paul Celan, der 1947 ins Exil musste, und 1958 schrieb:„Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten dieser Verluste dies eine: die Sprache. Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja trotz allem. Aber sie musste nun hindurchgehen durch ihre eigenen Ausweglosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, ‚angereichert’ von all dem. In dieser Sprache habe ich, in jenen Jahren und in den Jahren nachher, Gedichte zu schreiben versucht: um zu sprechen, um mich zu orientieren, um zu erkunden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirklichkeit zu entwerfen. … wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend.“
Georges Arthur Goldschmidts Sprache – die Muttersprache – blieb unverloren, aber sie bewahrte sich geschützt unter der Decke der anderen Sprache. Zunächst musste das Kind inmitten der widerstreitenden Gefühle den „Selbstpunkt“ finden. Es war die Literatur, die ihm parallele Welten und damit sich selbst offenbarte. In Büchern konnte sich der jugendliche Georges Arthur Goldschmidt selbst wiedererkennen. Er entdeckte ähnliches Erleben, er fand Erklärungen für seine eigenen Verwirrungen in den Büchern, bei Rousseau, bei La Bruyère. Er fand seinen Seelenverwandten in „Anton Reiser“ von Karl Philipp Moritz. Er las dieses Buch „mit einer Erschütterung des ganzen Körpers (so als seien jene Sätze quer durch ihn durchgeschrieben)“. Wie Blitzschläge erschütterte ihn die Lektüre, er war nicht mehr allein, er fand ausgedrückt, was ihn in seiner Einsamkeit quälte, er fand Milderung seiner Schuldgefühle. Die Schriftsteller wurden ihm zu Gefährten gegen die demütigende Lage, in die ihn das Leben im Kinderheim zwang.
Er begreift, dass die literarische Sprache, die poetische Annäherung der Sprache an das Unsagbare ein Befreiungsangebot ist. Die Literatur half ihm durch seine widerstrebenden Empfindungen zwischen Demütigung, Erniedrigung, Schmerz und der dennoch empfundenen Lust, den eigenen Körper zu spüren, dem man doch die Existenz verwehren wollte. Er musste immer wieder die Ruten für seine Züchtigung selbst sammeln und binden, er musste sich nackt schlagen lassen und hinterher aus Dankbarkeit für die Strafe, die er als verdient zu akzeptieren hatte, die Ruten küssen. Die Scham, ein Überlebender zu sein, quälte ihn, die Scham vor der Nacktheit, mit der sich präsentieren musste, erniedrigte ihn und gab ihm zugleich ein Bewusstsein von eigener Stärke. Er lebte, die Schläge bewiesen ihm das. Er konnte bei der Züchtigung Lust empfinden, er inszeniert seine Heulauftritte zum „Selbstspektakel“. Im Gespräch mit Hans-Jürgen Heinrichs kommentiert er seine Lust an der Strafe so: „Ich war ein perverser Knabe, der tatsächlich STRAFE verdiente und der bei jeder Gelegenheit losheulte, dem man aber nichts anderes zur Selbstfindung gelassen hatte…Es war doch unerhört, dass es so etwas wie mich noch gab! Oft bestätigte mir das meine Erzieherin, wenn sie mich strafte, aber daraus wieder entnahm ich die unglaubliche Freude am Leben, kerngesund zu sein, wo ich doch beseitigt, abgeschafft, endlich vergast gehörte. Das war wirklich das Paradies im Vergleich zu entsetzlichen Todesangst.“
Der Bestrafte sieht sich im Mittelpunkt, er ist sich selbst, er erzeugt Mitleid, sieht sich als Märtyrer, der seine Unschuld nicht beweisen kann, weil die Sprache vor dem Beweisen der Unschuld versagt. Dennoch, die Strafe befreite ihn von der Angst, umgebracht zu werden, sie wurde fast zu einem Ersatz für Zärtlichkeit. Sie wollten ihn demütigen, aber nicht töten. Er kann sich überhöhen durch die Unantastbarkeit, die ihn letztlich aus der Strafe heraushebt. Der Jugendliche gelangt aus der größten Schmach, die ihm angetan wird, zur Selbstfindung. Die Unterwerfung löst Auflehnung aus, ich bin euch zum Trotz und ich bin anders als ihr denkt, ich bin ich. Die Stärke der Selbstbehauptung gibt den, dem ich mich unterwerfe, der Lächerlichkeit preis.
Erst später, bei der Lektüre von Kafka hat Goldschmidt diese „letzte Finte der Unterwerfung, die Erhabenheit der Lüge“ wiederentdeckt, „das unsagbare des Leidens, das allein der Gerichtete empfindet wie den Gipfel des Unaussprechlichen.“ Dem Unsagbaren kann allein die Literatur sich annähern.
Georges Arthur Goldschmidt hat sich als Schriftsteller mit der poetischen Kraft der Sprache von seinen Obsessionen der Kindheit und Jugend befreien können. Er hat sich von seiner Biographie befreit, indem er schreibend Möglichkeiten der Darstellung seines Erlebens poetisch durchspielen konnte. Deshalb sind sieben Bücher entstanden, die das Thema der Erinnerung umkreisen, in mehr oder weniger offenen Bildern. Wir – als Leser – dürfen nicht in die Falle tappen, in diesen Texten immer nur Georges-Arthur Goldschmidts erlebte Wirklichkeit zu suchen. In der poetischen Darstellung lösen sich die Erlebnisse vom Autor, der uns seine Wunden zeigt, aber diese Wunden sind Bilder geworden für unsere eigenen Wunden, mit denen er uns konfrontiert, wenn wir die Lektüre als Selbstpreisgabe auch für uns selbst begreifen. Lesend beobachten wir uns selber – unsere Reaktion auf die fremden Emotionen und unsere eigene Gefühlsaufwallung. Georges Arthur Goldschmidt hat sich mit der poetischen Kraft seiner beiden Sprachen den Bildern und den Gefühlen in seinem Unterbewußtsein gestellt. Die ersten drei Bücher schrieb er auf Französisch, es folgten deutschsprachige und das letzte Buch „Ein Wiederkommen“ hat er in beiden Sprachen verfasst – mit unterschiedlichen Nuancen und Perspektiven. Jede Sprache reicht an andere Momente des Ausdrucks. Goldschmidt erzählt und verwandelt das Erlebte, Vergessene, Wiederaufgetauchte in Fiktion, das heißt in Erlebensmöglichkeit. Im Energiefeld der Kunst hat sich Goldschmidt von sich selbst gelöst und sich und uns als Leser entlassen in die Selbsterforschung. Wir beobachten auf der Bühne das, was einem Menschen angetan wird, das, was er dabei empfinden könnte, und wir beobachten uns selbst dabei, wie wir reagieren, wo wir selbst getroffen sind, wo unsere eigene Verletzung liegt, die wir so gerne verdrängen würden und längst verdrängt haben. Darin liegt die Kraft der künstlerischen Darstellung, dass sie uns nicht aus der Selbstbefragung entlässt. Wir, die Lesenden, sind es, die sich den Text aneignen und aufgefordert sind, Stellung zu beziehen. Die Erotik eines Heranwachsenden, die Entdeckung des Genusspotentials, das sich aus dem eigenen Körper beziehen lässt, wirkt als Metapher subversiv. Es richtet sich gegen die gesellschaftliche Ordnung, es eröffnet den Raum der Absonderung, der Urüberschreitung, die eine ganz andere Erfahrung möglich werden lässt, als es normalerweise vorgesehen und vorgegeben wird. Der künstlerische Text, das künstlerische Bild, der künstlerische Akt geben uns den Anstoß, aus dem Erwartbaren, aus dem Vorgegebenen auszubrechen in eine vorher unerkannte Freiheit des Denkens. Diese Freiheit erzeugt eine Lust des Denkens außerhalb der gesetzten Regeln. Die Funktionen, die Zweckmäßigkeit aller Dinge und Handlungen des Alltags werden außer Kraft gesetzt. Goldschmidt führt uns in seinen literarischen Büchern auf diese Widerständigkeit der Kunst durch das Beispiel des Kindes, das er uns poetisch zeigt, vor Augen. Ich zitiere aus „Der bestrafte Narziß“: „ Der Widerstand fängt schon mit der bloßen Gegenwart des Kindes an, mit seiner körperlichen Präsenz. Es stört den normalen Verlauf des Alltags und lässt am deutlichsten die Fragilität der sozialen Strukturen zutage treten: ein Kind genügt, um die ganze Maschinerie zum Stocken zu bringen, denn ein Kind bedeutet doch die Gefahr, daß mit ihm Unerwartetes auftritt. Das Kind als das Unberechenbare, Unvorhergesehene. Das Kind als das Entlarvende bedroht von innen jeden vorgezeichneten Verlauf und dieses ganz besonders im Bereich des Wortes mit seinen ideologischen Versteifungen und Erstarrungen. Das Kind ist das Poetische und Ursprung des Poetischen nicht seiner angeblichen Reinheit wegen, wie es eine der schlimmsten Zeiten der Geschichte der Menschheit proklamierte, sondern weil es immer jedes Wort und Satzgefüge durcheinanderbringt und Unvorhergesehenes, vor allem ja durch schwer lastende Gesellschaftsarbeit Verdrängtes, wieder zu Tage treten läßt. Die Kunst ist kindlich und kindisch, wenn sie zum Skandal wird.“ Die Kunst wird immer zum Skandal, wenn sie sich ernst nimmt, das heißt, wenn sie uns aus der Bahn des Gewohnten wirft, wenn sie uns am Schlafittchen packt und uns durchschüttelt, dass wir alle vorgegebenen Wissensinhalte und alle Vorurteile nicht mehr glauben können. Die Kunst schärft den Sinn für das Mögliche, in dessen Unermesslichkeit die Wirklichkeit nur eine Zufallserscheinung darstellt. Georges Arthur Goldschmidt bringt zur Sprache, was unaussprechlich ist, er stößt uns in die Zonen des Verdrängten und Tabuisierten, damit wir als Lesende staunend entdecken, was sich uns ohne diese Texte entzogen hätte.
Danke dafür, Georges Arthur Goldschmidt!