2017

Prof. Wolf Lepenies – Laudatio auf Étienne François

Plötzlich hört man aus der Gegend von Meudon, wenige Kilometer vor Paris, Kanonendonner.

In der rue du Montparnasse unterbricht der Kritiker Charles-Augustin Sainte-Beuve das Diktat einer neuen Causerie du Lundi, es ist ein Augenblick höchster Konzentration, in dem sich jahrelange Erfahrung, monatliche Lektüre und allwöchentliche Recherche zu einem Tagestext verdichten, der den Montag in Frankreich über Jahrzehnte zum literarischen Streit- und Feiertag macht. Als ob er im Manöverlärm den Deutsch-Französischen Krieg vorausahnt, der 1870, zwei Jahre nach seinem Tod ausbrechen wird, entwirft Sainte-Beuve im Gespräch mit seinem Sekretär eine Utopie der deutsch-französischen Annäherung von ironischer Kühnheit:

"Ich weiß nicht, was man [bei diesen Manövern] plant [...], anstatt die eine gegen die andere der beiden großen Mächte aufzuhetzen, die sich, wie Frankreich und Preußen, an der Spitze der europäischen Zivilisation befinden, wäre es doch viel besser, sie einander näherzubringen ... seiner militärischen Stärke und seines wissenschaftlichen Genies wegen käme für uns, die wir stark und ein Land des Fortschritts sind, eine Allianz mit Preußen am ehesten in Frage ... Es wäre viel besser, statt an einen Zusammenprall der beiden Kolosse zu denken, zwei Schulen zu schaffen, eine in Berlin, die andere in Paris. Ihre Jugend würde zu uns kommen, um sich zu mäßigen und geschmeidiger zu werden: sie würde dabei nichts von ihrer Kraft verlieren und etwas von unserer Zuvorkommenheit des Geistes annehmen; wir dagegen würden die Elite unserer Fakultäten in ihre Labors schicken, die reicher ausgestattet sind als die unsrigen, damit sie sich im Kontakt mit diesem rauen Volk stärkt, das, wenn man so will, so barbarisch ist wie die Mazedonier ... [die Preußen] sind die modernen Mazedonier und umso mehr zu fürchten."

Die Utopie Sainte-Beuves verwirklicht sich 1992 in Berlin – mit der Gründung des Centre franco-allemand en sciences sociales, das nach dem großen Historiker Marc Bloch genannt wird. Und Gründungsdirektor, der das Centre Marc Bloch bis 1999 leitete, wird Etienne François.

Lieber Etienne, ich erinnere mich gut an den 9. Dezember 1992, die Sitzung unseres Gründungskomitees. Die Hoffnungen waren groß – und wurden übertroffen: Unter Ihrer Leitung nahm das Centre Marc Bloch eine glänzende Entwicklung.

Sie sind Franzose, aber Sie haben einen großen Teil Ihres professionellen Lebens in Deutschland verbracht und haben, lange bevor Sie auch die deutsche Staatsbürgerschaft annahmen, nie ein Hehl daraus gemacht, wie nahe Sie sich dem deutschen Geistesleben fühlen. Sie liefen damit die gleiche Gefahr wie einst der junge normalien Raymond Aron, der seine Pariser Prüfungskommission durch die Detailkenntnis der deutschen Geschichtsphilosophie derart schockierte, dass ein Prüfer entsetzt ausrief: „Mais Monsieur, la pensée allemande a complètement déteint sur la vôtre...“.

Sie, Etienne, sind Franzose und Deutscher, sie sind mit deutschen und französischen Orden ausgezeichnet worden, sie haben 1990 den Prix France-Allemagne erhalten, Sie sind eine deutsch-französische Akademie in einer Person - und dennoch haben Sie sich nicht in den Fallen des Bilateralismus verfangen. Schon 1998 schrieben Sie, es sei höchste Zeit, „von der bilateralen Versöhnung zur multilateralen Zukunftsbewältigung“ zu gelangen. Diese Forderung ist aktueller denn je.

Das Centre Marc Bloch ist unter Ihrer Leitung nicht zuletzt deshalb eine europäische Institution geworden, weil Sie - aus dem fernen Westen stammend, geboren in Rouen, ausgebildet zunächst in Nancy und dann am Lycée Louis-le-Grand und an der Ecole Normale Supérieure in Paris - schneller als viele Westdeutsche gemerkt hatten, dass man in Berlin - und hier liegt ein Unterschied zur Bonner Republik - die deutsch-französische Kooperation nachhaltig nicht befördern kann, ohne die Länder Osteuropas, ohne vor allem unseren größten unmittelbaren Nachbarn, Polen, in diese Kooperation miteinzubeziehen. Haben Sie dies schon als Assistent und Professor in Nancy gewusst - der Stadt Stanislaw Leszczynskis? An der Notwendigkeit eines Weimarer Dreiecks, einer deutsch-französisch-polnischen Entente, haben Sie nie gezweifelt und ich bin froh darüber, dass wir gemeinsam als Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats der Stiftung Genshagen dafür kämpfen durften. Mit polnischen Kollegen haben Sie die deutsche, französische und polnische Geschichtspolitik seit dem Umbruch 1989 miteinander verglichen und in dem 2007 zusammen mit Jörg Seyfarth herausgegebenen Band Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert haben Sie der Vision des Weimarer Dreiecks historische Tiefenschärfe verliehen.

Sieben Jahre lang, von 1979 bis 1986, waren Sie Leiter der französischen Mission historique in Göttingen. Es folgten Professuren in Nancy, Stuttgart und Paris, bevor Sie nacheinander an die Frankreich-Zentren der Technischen und der Freien Universität Berlin berufen wurden. Über zwei deutsche Städte haben Sie eindrucksvolle Monographien geschrieben. 1982 erscheint, basierend auf Ihrer thèse, Koblenz im 18. Jahrhundert. Dort zeichnen sie auf Grund präzise ermittelter demographischer Daten nicht nur die „Sozial- und Bevölkerungsstruktur einer deutschen Residenzstadt“ nach, sie widerlegen auch anhand der Alphabetisierungsquoten die Legende vom Bildungsrückstand der katholischen gegenüber der protestantischen Bevölkerung im Ancien Régime. 1991 publizieren Sie Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648-1806. Sie sind fasziniert von der einzigen deutschen Großstadt, in der die katholischen und die protestantischen „Konfessionsverwandtschaften“ gleich stark vertreten sind, offenkundig miteinander auskommen und doch durch eine unsichtbare Grenze von einander getrennt bleiben: für beide Seiten sind Mischehen ebenso Tabu wie ein Glaubenswechsel.

Für diese Arbeit erhalten Sie den „Prix Strasbourg“, doch die Konturen des „Prix de l’Académie de Berlin“ zeichnen sich von dem Augenblick an  ab, da Sie das Motto „Vergleichen um besser zu verstehen“ zur Leitidee Ihrer wissenschaftlichen Arbeit und Ihres wissenschaftspolitischen Engagements machen. Ihre Publikationsliste umfasst mehr als 350 Einträge, drei Viertel davon gelten, wenn ich recht geschätzt habe, deutsch-französischen Themen. Es gibt keinen Aspekt der deutsch-französischen Beziehungen zu dem Sie nicht publiziert haben, wobei Ihre Beiträge zum Kulturtransfer und zur Erinnerungskultur einen besonderen Platz einnehmen. Zunächst haben Sie in den drei, zusammen mit Hagen Schulze edierten Bänden Deutsche Erinnerungsorte die Tradition der von Pierre Nora begründeten Forschung zu den „lieux de mémoire“ eindrucksvoll fortgesetzt. Die Bandbreite Ihres Interesses zeigt sich in der nicht nur geographischen Entfernung zweier Erinnerungsorte, über die Sie selbst schreiben: die Wartburg und Oberammergau. Ihre kritische Empathie gilt historischen Epochen und Episoden, die für die darin Handelnden eine besondere moralische Herausforderung darstellen: Widerstand und Kollaboration, Krieg und Revolte. Hier vereinen Sie besonders eindrucksvoll zwei Tugenden des Historikers, die ansonsten oft miteinander in Wiederstreit liegen: Genauigkeit und Einfühlung.

2008 nahmen Sie, wie Sie in Ihrem Curriculum Vitae schreiben, Ihren „Départ en retraite“, der aber keinen Rückzug von der wissenschaftlichen Arbeit bedeutete: in diesem September haben Sie, zusammen mit Thomas Serrier, einen Band zur europäischen Gedächtniskultur mit dem Titel Europa – Notre Histoire herausgegeben, über 1300 Seiten, 109 Autoren, 149 Artikel  - neun davon haben Sie selbst geschrieben - die Autoren stammen aus der ganzen Welt, von Vancouver bis Tokio, von Wien bis Kinshasa. Ein opus magnum – und eine Summa, die ihre historiographischen Grundüberzeugungen widerspiegelt und noch einmal zusammenfasst. Marc Bloch und Fernand Braudel sind die maîtres à penser, an denen Sie sich mit Ihrem Vorhaben orientieren, die Vereinzelung der verschiedenen Nationalgeschichten hinter sich zu lassen und Weltgeschichte zu schreiben. Ihr nachdrückliches Plädoyer dafür, sich der Elemente einer gesamteuropäischen Erinnerungskultur zu versichern, entspricht einer politischen Agenda: Eine europäische Zukunft wird sich nur auf der Grundlage eines europäischen Gedächtnisses bauen lassen. Im Prolog zu Europa – Notre Histoire sprechen Sie davon welches Vergnügen Ihnen der Austausch mit Ihren Autoren bereitet hat und welche Entdeckungen Sie dabei machen konnten – die „plaisirs de la découverte et de l’échange“ teilen sich auch dem Leser mit. Und es ist stets ein intellektuelles Vergnügen, zu sehen und zu hören, wie sie auf Arte Aspekte der deutsch-französischen Geschichte erhellend kommentieren.

Wo auch immer Sie tätig waren – Sie haben sich für die deutsch-französischen Beziehungen nicht wie ein Missionar engagiert, der andere zum wahren Glauben bekehren will sondern wie ein Skeptiker, der seine eigenen Überzeugungen immer wieder auf den Prüfstand stellt. Welche Berechtigung aber hat eigentlich Ihre Skepsis? Ist nicht tatsächlich aus den Deutschen und Franzosen, diesen ‘Promessi Sposi’, wie Annette Kolb es sich in den zwanziger Jahren erträumte, ein Traumpaar geworden? Muss man nicht die Skepsis beiseitelassen und darf pathetisch bleiben, wenn man daran erinnert, dass die deutsch-französische Freundschaft unseren Eltern bereits wie ein Wunder vorkam - und dass sie noch unseren Großeltern als ganz unmöglich erschienen wäre?

Die deutsch-französische Freundschaft gewann schnell eine charismatische Aura. Schon früh haben Sie nüchtern vorausgesagt, dass auch den Beziehungen unserer beiden Länder unweigerlich drohen wird, was Max Weber die „Veralltäglichung des Charismas“ genannt hatte: Der Charme des deutsch-französischen Bilateralismus ergraute im Alltag der Routine. Seine Überinstitutionalisierung führte zu einer Ideenflucht, welche die "apparatshiks du franco-allemand" - es sind Ihre Worte, Etienne - nicht wahrnehmen wollten, weil sie damit ihre eigene raison d'être gefährdeten. Zur Routine kam Erosion. Die Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen stockte. Missverständnisse häuften sich. Missgriffe kamen hinzu, wie das demonstrativ ohne französische Ko-Autorschaft verfasste Schröder-Blair-Papier. Jüngstes Beispiel: der vom Deutschen Entwicklungsministerium vorgelegte Plan eines Marshallplans mit Afrika, der im Alleingang, statt in enger Kooperation mit Frankreich entwickelt wurde. Die Wahl Emmanuel Macrons ist ein Hoffnungszeichen, dass die Franzosen mutiger werden und die Deutschen nicht länger den Besserwisser spielen.

Laudationes sind in der Regel rückwärtsgewandt, sie ziehen Bilanz, sie heften ab, sie beschwören nostalgisch das Imperfekt. Dazu besteht heute kein Anlass. Wir dürfen, wir können über die Zukunft reden, die Zukunft einer Wissenschafts- und Kulturpolitik, die von deutsch-französischen Kooperationen beflügelt wird und die sich in Berlin in Institutionen wie dem Centre Marc Bloch, den Frankreich-Zentren der Universitäten und in Persönlichkeiten wie Etienne François verkörpert. Diese Zukunft mitgestalten will die Académie de Berlin, deren Preis heute ein Franzose, ein Deutscher und ein Europäer erhalten: Etienne François.

Lieber Etienne - wir haben vielfach zusammengearbeitet - besonders gerne denke ich zurück an das Engagement für unseren Freund Stefan Amsterdamski und die Graduate School for Social Research an der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau. 1991 sind Sie meiner Einladung gefolgt und wurden Fellow am Wissenschaftskolleg. Wir haben stets freundschaftlich miteinander kooperiert, aber wir haben unsere Kooperation nie unter Übereinstimmungszwang gesetzt. Unbewusst haben wir dabei manches Mal vielleicht an den Ratschlag Diderots gedacht: „Sprecht Euch nicht miteinander aus, wenn Ihr Euch verstehen wollt!“ Wir haben uns stets gut verstanden - und ich möchte Ihnen auch an dieser Stelle und bei dieser Gelegenheit dafür danken.

Und nun will ich Ihre Politesse preisen - und dafür noch einmal auf das Centre Marc Bloch und seine Entstehungs- und Gründungsgeschichte zurückkommen. Selten habe ich eine Institutionengründung miterlebt, die so sehr von Takt bestimmt wurde, dass es auf einmal schien, ‘understatement’ sei eine französische Vokabel.

Dem Takt der Institutionengründung entspricht ein Wesenszug von Ihnen, den ich als Politesse bezeichne. Erschrecken Sie? - Zu Recht, hat das Wort doch heute im Französischen, erst recht aber im Deutschen keinen guten Klang - wenn es überhaupt noch klingt, denn in einschlägigen Konversationslexika finden Sie unter ‘Politesse’ zunächst den Eintrag: „Angestellte zur Unterstützung der Polizei, die den ruhenden Verkehr überwacht“ und erst dann wird „Politesse“ durch vier Adjektive charakterisiert, die allesamt einen negativen Klang haben: feminin, unzeitgemäß, veraltet, französisch.

Nun mag das Wort veraltet sein, die Sache ist es nicht, jedenfalls sollte sie es nicht sein, erst recht nicht in Deutschland, wo ein aggressiver, sich zunehmend ins Rüpelhafte steigernder Verzicht auf Politesse von Politikern aller Couleur als demokratische Bodenständigkeit vermarktet wird. Ernest Renan war es, der beklagte, dass der Fortschritt der Demokratie bedauerlicherweise mit dem Verlust der Politesse erkauft wurde, weil man sie als Haltung des Ancien Régime missverstand: „Nos machines démocratiques excluent l’homme poli.“ Der Verfasser des Artikels ‘Politesse’ in der Grande Encyclopédie aber fährt fort, und ich möchte ihm recht geben: „Pourtant, si la démocratie doit nécessairement détruire les institutions cérémonielles proprement dites et le respect de tous les protocoles, on ne voit pas qu’elle dispense de cette politesse plus simple mais plus essentielle...Une société fondée sur l’égalité a plus que tout autre besoin des vertus sociales, et la politesse n’est au fond que ‘l’expression ou l’imitation de ces vertus ...’“.

Die Demokratie bedarf - und sei es auf dem Wege des Imports - der Politesse, wie sie der Zedler, das deutsche Universallexikon aus frühaufklärerischer Zeit, auf die ebenso einleuchtende wie pragmatische Formel brachte, Politesse bestehe darin, zu meiden, was anderen zuwider sei und zu üben, was anderen angenehm sein möge.

Diese Politesse verkörpern Sie wie kein anderer. Nicht das Nie oder das Niemals, das Noch-Nicht bestimmt Ihre Haltung. Ich denke dabei noch einmal an den Kritiker, von dem man sagte: „Il pense avec politesse“, ich denke an Charles-Augustin Sainte-Beuve, von dem ein unvergleichlicher Satz überliefert ist, mit dem er auf eine scharfe, von seiner eigenen Auffassung abweichende Meinung reagierte: „Monsieur, je ne suis pas encore de votre avis!“ Die Haltung des pas encore hat eine alte, eine selbstbewusste Zivilisation zur Voraussetzung. In genau diesem Sinne sind Sie, lieber Etienne, in Situationen, die nicht das eindeutige Schwarz-Weiß prägt, ein Mann des pas encore.

Heute danke ich Ihnen für Ihre Freundschaft. Wir alle danken Ihnen für Ihre Politesse, ihre „Zuvorkommenheit des Geistes“ - eine Haltung, die Sie in der Politik der von Ihnen repräsentierten Institutionen ebenso gezeigt haben wie im persönlichen Umgang mit anderen - auch wenn diese nicht immer einer Meinung mit Ihnen waren. Wir brauchen diese Politesse, und wir brauchen sie besonders dringlich in der deutschen Hauptstadt, in der es immer noch barbarische Mazedonier gibt. Deshalb freuen wir uns umso mehr darüber, dass Sie und Ihre Frau Beate in Berlin geblieben sind und wenn Sie danach gefragt würden - und Sie sind gewiss danach gefragt worden -, wie um Himmels willen man Berlin Paris vorziehen könne, so werden Sie wohl mit der Ihnen eigenen Politesse geantwortet haben wie einst der Chevalier de Montbarey auf eine ganz ähnliche Frage: „Warum sollte ich nicht bleiben? Die gute Gesellschaft hier ist wie überall, aber die schlechte ist exzellent! “

Im Namen aller Akademie-Mitglieder gratuliere ich Ihnen zum Prix de l’Académie de Berlin: Félicitations!