2012

Prof. Wolf Lepenies – Laudatio auf Eva Moldenhauer und Bernard Lortholary

Verleihung des Prix de l’Académie de Berlin
Akademie der Künste Berlin

27. November 2012
Wir befinden uns in Berlin - im Januar 1821. Von Ludwig XVIII. zum Pair de France und Botschafter in Preußen ernannt, hat der Dichter Chateaubriand gerade an seiner neuen Wirkungsstätte Quartier bezogen. Am Abend geht er mit seinem Kammerdiener in der Nähe des Charlottenburger Schlosses spazieren. Beide beobachten einen Mann, der vom ersten Stock eines Hauses auf einen Passanten auf dem Bürgersteig einredet. Der Mann im ersten Stock redet und redet, der Passant auf dem Trottoir steht wie angewurzelt da und lauscht dem Redner mit offenem Mund. So geht es eine geraume Zeit, der erste Stock redet und redet, der Bürgersteig schweigt und hört zu. Chateaubriand und sein Diener stehen immer noch da und beobachten das ungleiche Paar. Schließlich hält der Diener es nicht mehr aus und er ruft, auf den stummen Passanten zeigend: "Herr Graf, Herr Graf, worauf wartet er? Worauf wartet der nur?" Chateaubriand: "Das Verb!"

Das Verb... Als ein französischer Linguist (Alain Bentolila) ein Buch mit dem Titel Le Verbe contre la Barbarie (2007) publizierte, attackierte er darin seine Landsleute, ihre zunehmende Rechtschreibschwäche, ihren sorglosen Umgang mit der Orthographie, die in Frankreich l’orthographe heißt. Aber: Das Verb gegen die Barbarei – das hätte auch eine Attacke auf die deutsche Sprache sein können, die es zulässt, dass auf das Subjekt das passende Verb erst nach Abschweifungen und Umwegen folgt, die sich für Leser und Zuhörer oft genug als ein Irrweg erweisen. Die Franzosen aber wollen auf das Verb nicht warten. Es war ein französischer Politiker, Georges Clemenceau, der den neuen Sekretär streng zurechtwies, als dieser ihm seinen ersten Briefentwurf vorlegte: "Mein Herr! Ein Satz besteht aus einem Substantiv und einem Verb. Wollen Sie Adjektive oder Adverbien benutzen, fragen Sie mich vorher!"
Den Satz erst verstehen zu können, wenn er zu Ende ist – welch ein Skandal! Das Reinheitsgebot der französischen Sprache lässt dies nicht zu – das Regelwerk einer Sprache, in deren korrektem Gebrauch sich die Klarheit des Denkens selbst ausdrückt. So argumentierte im 18. Jahrhundert Rivarol in seiner Antwort auf die Frage der Berliner Akademie, worin die universelle Geltung der französischen Sprache begründet sei und vertrat damit eine Überzeugung, die unsere Nachbarn bis heute teilen und die auch der selbstbewussten Sprachpolitik der Frankophonie zu Grunde liegt.

Von der deutschen Unübersichtlichkeit sind die Franzosen gleichermaßen irritiert wie fasziniert. Französische Klarheit wiederum nötigt die Deutschen auf der einen Seite zu neidvoller Bewunderung und verleitet sie auf der anderen Seite zur Herablassung gegenüber dem, was sie als elegante Oberflächlichkeit abtun. Vom Deutschen ins Französische, vom Französischen ins Deutsche zu übersetzen, ist daher eine besondere Herausforderung. Es hat seinen Grund, dass die Übersetzungswissenschaft einen Schwerpunkt in der Behandlung französischer und deutscher Texte und ihrer Übertragbarkeit in die jeweils andere Sprache hat. Nirgendwo trifft der Satz Georges-Arthur Goldschmidts mehr zu: "Hinter der Übersetzung steht der Text in der Originalfassung und lacht sich ins Fäustchen." Aber: Es gibt Übersetzer, da vergeht dem Originaltext das spöttische Lachen. Zwei von ihnen ehren wir heute, indem wir ihnen den Prix de l’Académie de Berlin verleihen: Eva Moldenhauer und Bernard Lortholary. Und es ist uns eine Freude, dass eine andere große Übersetzerin, Jeanne Etoré, heute Abend ebenfalls bei uns ist.

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In der Wahl der diesjährigen Preisträger ist die Akademie, geben wir es zu, nicht sehr originell: Eva Moldenhauer und Bernard Lortholary haben so viele Ehrungen erhalten, dass man unsere Akademie des Preis-Plagiats verdächtigen könnte. Bernard Lortholary ist unter anderem Träger des Grand Prix National de la Traduction (1992) und Eva Moldenhauer wurde erst vor einem Jahr, nur wenige Meter von hier, in der Französischen Botschaft, der Raymond-Aron-Preis für deutsch-französische Übersetzungen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften verliehen. Dennoch fällt es leicht, unsere Wahl zu rechtfertigen. Wir variieren den Satz Theodor Fontanes, mit dem er auf den Vorwurf des Selbstplagiats gelassen antwortete: "Etwas Gutes kann auch zwei Mal gesagt werden." Etwas Gutes kann auch zwei, es kann auch drei Mal getan werden. Eva Moldenhauer und Bernard Lortholary haben einen Kosmos von Übersetzungen geschaffen, dessen Umfang und Qualität durch einen einzigen Preis gar nicht angemessen gewürdigt werden kann. Auch wird der Prix de l’Académie de Berlin gewiss nicht die letzte Auszeichnung sein, die beide erhalten.

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Die Bibliographie Eva Moldenhauers umfasst weit mehr als einhundert Titel aus den Bereichen Belletristik und Biographie, Anthropologie und Ethnologie, Philosophie, Soziologie und Linguistik, Geschichte und Politik sowie Psychoanalyse. Durch ihre Übersetzungen sind den deutschen Lesern, um nur zwei Beispiele zu nennen, in der Literatur die Romane von Claude Simon ebenso vertraut geworden wie in der Ethnologie der Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss. Am Werk von Lévi-Strauss lässt sich zeigen, worin der Rang der Übersetzungen von Eva Moldenhauer liegt. Es ist ihre Fähigkeit, nicht nur bestimmte Autoren und einzelne ihrer Werke zu übersetzen, sondern ganze literarische und wissenschaftliche Landschaften auf das Genaueste abzubilden. So hat Claude Lévi-Strauss mit seinem Buch Les Structures élémentaires de la parenté das Musterbeispiel einer strengen Anthropologie vorgelegt, die ihre Einsichten mehr dem Kalkül als der Einfühlung verdankt. In Tristes Tropiques dagegen hat Lévi-Strauss seiner Sehnsucht nach einer verlorenen Kultur Ausdruck in einem großen Essay gegeben, der mehr einer persönlichen Konfession als einer wissenschaftlichen Abhandlung ähnelt. Traurige Tropen und Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft – es sind Bücher ein und desselben Autors. Um nun der Wissenschaftslandschaft, die der Autor Lévi-Strauss geschaffen hat, gerecht zu werden, muss man in der Übersetzung von Tristes Tropiques der Nostalgie einen Anflug von Präzision geben, muss man in der Übersetzung der Elementaren Strukturen hinter der nüchternen Analyse die Empathie des Autors mit seinem Gegenstand spüren. Beides ist Eva Moldenhauer in bewundernswerter Weise gelungen.

Die Eleganz der Lösungen, die unsere Preisträgerin für die schwierigsten Übersetzungsprobleme findet, beruht auf Ausdauer, Hartnäckigkeit, penibler Feldforschung – und manchmal auch auf Finderglück. Als sie Claude Simons Roman Le Tramway übersetzt, fährt Eva Moldenhauer in ihrem kleinen Peugeot nach Südfrankreich, sucht nach den Überresten der Trambahnlinie zwischen Canet und Perpignan und spürt im Touristenbüro von Canet schließlich ein Postkartenalbum mit den Objekten auf, die in Claude Simons Roman eine Rolle spielen. Und in ihrer Heimatstadt Frankfurt geht sie ins Straßenbahnmuseum und lässt sich von einem pensionierten Führer stundenlang die deutschen Vokabeln für die Fachausdrücke erklären, mit denen der Autor die französische Trambahn beschrieben hat. Die Übersetzung von La Route des Flandres zwingt sie zum ersten Mal in ihrem Leben auf eine Pferderennbahn, und prompt lernt Eva Moldenhauer eine Journalistin kennen, die früher Jockey war und ihr hilft, sich in Claude Simons Roman, in dem Pferde eine große Rolle spielen, zurechtzufinden. Nur die Frage, "an welcher Stelle am Sattel eines Kavallerieoffiziers sich wohl der Säbel oder Degen befunden haben könnte", kann sie ihr nicht beantworten.

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Nicht weniger umfangreich als das Werk Eva Moldenhauers ist das Œuvre von Bernard Lortholary. "Ich habe einhundert Bücher geschrieben, deren Autor ich nicht bin", lautet das leicht melancholische Fazit dieses großen Übersetzers, der sich wie viele seiner Kollegen als "écrivain frustré" fühlt – ohne dadurch seinen Enthusiasmus für das Übersetzen verloren zu haben. Lortholary wurde als Übersetzer geboren; kaum beherrschte der kleine Bernard die ersten Vokabeln der fremden Sprache, versuchte er sich an einer deutschen Fassung seines französischen Lieblingscomics. Dann wendete sich das Blatt und Bernard Lortholary begann, vom Deutschen ins Französische zu übersetzen. Zu den von ihm übersetzten Autoren zählen neben vielen anderen Sigmund Freud, Robert Walser, Kafka und Brecht, Rilke und Thomas Bernhard, Hans Magnus Enzensberger, Patrick Süskind und Volker Schlöndorff. Dass 2010 Enzensbergers Hammerstein oder der Eigensinn – auf Französisch: Hammerstein ou l’intransigeance – von L’Express und Lire zum besten Buch des Jahres gewählt wurde, hatte der Autor auch seinem Übersetzer zu danken. Bernard Lortholary hat als Studienrat Deutsch unterrichtet, er war Professor für Germanistik an der Sorbonne, Schüler und Kollege Paul Celans an der Ecole Normale Supérieure und nicht zuletzt Mitglied des Comité de Lecture bei den Verlagen Flammarion und Gallimard. Lortholary hat über hundert Titel selbst übersetzt – und hat als Lektor geholfen, dass mehr als dreihundert deutschsprachige Bücher auf Französisch erscheinen konnten. Klassiker wie Goethe, Chamisso und Büchner haben in ihm einen ebenso sorgfältigen wie sympathisierenden Herausgeber gefunden. So ansteckend war seine Liebe zur deutschen Literatur, so überzeugend seine Begeisterung, dass es ihm gelang, Verlage zur Publikation deutscher Titel zu überreden, deren Verkaufszahlen – wie erwartet - im niedrigen dreistelligen Bereich verharrten. Der Verbreitung deutscher Literatur in Frankreich hat es dabei nicht geschadet, dass Bernard Lortholary in der Zunft mit dem Spitznamen "Verlustgeschäft auf zwei Beinen" bedacht wurde. Für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland hat ihn die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in diesem Frühjahr mit dem Friedrich-Gundolf-Preis geehrt.

Auch wenn Bernard Lortholary lieber übersetzt als das Übersetzen kommentiert, verdanken wir ihm aufschlussreiche, oft skeptische Anmerkungen zu einem Metier, von dem er sagte, man müsse es mindestens zehn Stunden am Tage betreiben, um davon leben zu können. Lortholary hat darauf aufmerksam gemacht, dass Übersetzungen schneller altern als die Originale – wenn diese es überhaupt tun – und hat daraus beispielsweise die Berechtigung gezogen, Kafka noch einmal zu übersetzen. Liest man seine "Note sur la traduction" von Kafkas Prozeß, bewundert man die Delikatesse, mit welcher der Übersetzer einen Vorgänger und Kollegen ohne Besserwisserei aber mit Entschiedenheit zu korrigieren weiß. Als Kafkas Text 1933 zum ersten Mal übersetzt wurde, befürchtete man, er werde den Franzosen zu fremd vorkommen und übergoss ihn daher, "pour faire français" - ich zitiere Lortholary - mit ein wenig französischer Soße. Lortholary entschloss sich zu einer Neuübersetzung – nicht, um den Text Kafkas dem literarischen Tagesgeschmack anzupassen, sondern um ihm den Geschmack des Gestern zu nehmen und zu versuchen, seine "saveur originale" wiederherzustellen. Mit Erfolg.

Das Veralten von Übersetzungen bringt mich zu einer Frage. Lieber Bernard Lortholary: Sie haben sich Theodor Fontane bisher nur indirekt genähert - durch die Übersetzung des Romans Ein weites Feld von Günter Grass, der auf Französisch unter dem Titel Toute une histoire erschien. Fonty aber ist nur ein Abklatsch von Fontane… Fontane zu übersetzen, ist vielleicht die größte Herausforderung für einen Übersetzer vom Deutschen ins Französische. Weil dieser preußische Autor – nach Herkunft, Neigung und schreibender Praxis – so französisch ist. Nicht nur der alte Stechlin pflegt sein "Etappenfranzösisch", Fontane schreibt durchgängig ein Französisch durchsetztes Deutsch, in seinen Romanen heißen Kapitelüberschriften "Chez soi" und wie selbstverständlich kann Czako im Stechlin einen Satz wie den folgenden sagen: "Schließlich kann man ja Toilette machen und noch seinen Diskurs daneben haben." Fontane ist der einzige deutsche Autor, der eine der großen literarischen Institutionen Frankreichs vollendet beherrscht: die Konversation oder Causerie. Im Französischen mag es so klingen, als seien Fontanes Causerien die natürlichste Sache von der Welt. Sie sind es aber nicht. Will man der Leistung Fontanes gerecht werden, dürfen seine Causerien und Konversationen in der französischen Übersetzung gerade nicht natürlich klingen. Denn sie sind der deutschen Sprache abgerungen – und dies muss im Französischen hörbar werden, ohne bemüht oder verkrampft zu wirken. Ich bin nicht kompetent genug, um die auf französisch vorliegenden Fontane-Übersetzungen von Claude David oder Jacques Legrand angemessen zu beurteilen. Ich kann nur fragen: Haben beide vielleicht des Guten zu viel getan? Klingt Fontane im Französischen zu natürlich? Ist dies der Fall, habe ich eine Bitte: Cher Bernard, übersetzen Sie den Autor des Stechlin noch einmal!

Erst gestern Abend habe ich erfahren, dass Bernard Lortholary dem Hause Gallimard den Vorschlag unterbreitet hatte, Fontane in der Bibliothèque de la Pléiade herauszubringen. Der Verlag lehnte ab. Dies war der zweite große Fehlentscheidung des Verlags. Die erste ereignete sich vor genau einhundert Jahren, als Gallimard, auf den Rat André Gides, es ablehnte, Marcel Prousts Recherche zu publizieren.

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Meine Damen und Herren –
Dass die Académie de Berlin heute eine große Übersetzerin und einen großen Übersetzer ehrt, ist für uns die natürlichste Sache von der Welt. Die ungeschriebene Satzung unserer Akademie verlangt geradezu, Übersetzungen aus dem Deutschen ins Französische und umgekehrt eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen. So will die geplante Bibliothek unserer Académie Übersetzungen französischer Werke, die seit langem nicht mehr greifbar sind, dem deutschen Lesepublikum erneut zugänglich machen. Auch gehört zu den Mitgliedern der Akademie Erika Tophoven, die zusammen mit ihrem Mann Elmar Tophoven nicht nur Schlüsseltexte der literarischen Moderne übersetzt, sondern durch die Konzeption und Verwirklichung des Europäischen Übersetzer-Kollegiums in Straelen der Profession eine erhöhte institutionelle Sichtbarkeit und verstärkte intellektuelle Anerkennung gegeben hat.

Die Gründung des Kollegiums gehört zu den Initiativen, welche die öffentliche Wertschätzung der Übersetzertätigkeit erhöht haben. Mittlerweile feiern wir sogar den International Translation Day - am 30. September, dem Ehrentag des Hl. Hieronymus, des Schutzpatrons der Übersetzer. Angemessen aber wird die Leistung der Übersetzer immer noch nicht gewürdigt. Nichtbeachtung oder Unhöflichkeit ihnen gegenüber sind weiter an der Tagesordnung. Zwar steht der Name der Übersetzer wenigstens auf dem inneren Titelblatt der von ihnen übersetzten Werke – aber dass in Rezensionen die Leistung der Übersetzer angemessen und kritisch gewürdigt wird, ist immer noch die Ausnahme.

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Probleme der Übersetzung beschäftigen uns heute stärker als je zuvor. Was heißt Globalisierung? Es heißt, dass wir in ein Zeitalter der Wanderungen und der Kulturverschiebungen eingetreten sind. Wir erkennen, dass Kulturen weniger ihre Stabilität kennzeichnet, als vielmehr ihre inhärente Beweglichkeit. Der Wunsch, im eigenen Kulturkreis zu verharren, verliert gegenüber der Notwendigkeit und der Bereitschaft zum Kulturenwechsel an Bedeutung. Natürlich gibt es auch Gegenbewegungen: die Mobilitätsabwehr, das Sich-Abkapseln in der Herkunftskultur. Mobilitätsbereit zu sein, ist eine sehr europäische Aufforderung. Zu dieser Beweglichkeit gehört die Fähigkeit zum Kulturenwechsel und damit auch zur Übersetzung der Kulturen. Aus der "entschiedenen Neigung" eines Publikums von Kennern und Liebhabern, "sich das Fremde anzueignen" – ich zitiere aus Schleiermachers Übersetzungsschrift – ist eine Notwendigkeit für uns alle geworden.

Im europäischen Kontext erfreuen sich Übersetzungen nicht zuletzt deswegen einer hohen Reputation, weil sie – so paradox dies auch klingen mag - ein erprobtes Mittel zur Identitätssicherung der eigenen Kultur sind. In Deutschland kennt man Shakespeare noch nicht, wenn man ihn nur aus den Übersetzungen von Tieck und Schlegel kennt, aber der deutsche Geist wäre unvollkommen ohne den deutschen Shakespeare. Das gleiche gilt für die französischen Faust-Übersetzungen. Werden in Europa die einzelnen Nationalliteraturen miteinander vernetzt, werden damit zugleich ihre Eigenarten noch schärfer herausmodelliert. Übersetzungen sind ein Umweg, der schneller zum Ziele führt. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts herrscht in Europa die Überzeugung, dass man seine Muttersprache perfekt nur mit Hilfe lateinischer Übersetzungen lernen kann.

Die europäische Kultur ist auf paradoxe Weise eine einheitliche Kultur, weil die Schätzung der Verschiedenheit überall auf dem Kontinent zum Gemeingut geworden ist. In Übersetzungen drückt sich nicht notwendigerweise eine Sympathie mit fremdem Geist, wohl aber, in gewissen Grenzen, seine erstrebte Aneignung aus. Die Einebnung sprachlicher und kultureller Differenzierungen wäre dabei ein Verlust, der die notwendigen Mängel einer jeden Übersetzung bei weitem aufwiegen würde. Nicht die Angleichung der Kulturen ist das Ziel, sondern die Sicherung ihrer wechselseitigen Übersetzbarkeit. Daher lässt sich das Wort von den belles infidèles, das im 18. Jahrhundert in kritischer Absicht auf schlechte Shakespeare-Übersetzungen gemünzt wurde (Pierre-Antoine de la Place, Théâtre anglais, 1745-48), als generelles Kennzeichen aller Übersetzungen verwenden: Sie können gar nicht anders als untreu sein, aber ihre Untreue hat eine ästhetische und eine soziale Funktion. Die europäische Kultur entsteht durch Übersetzungen; die europäische Kultur ist eine übersetzte Kultur.

Mit unseren Preisträgern ehren wir heute nicht nur zwei bedeutende Übersetzer, sondern auch zwei überzeugte Europäer: Eva Moldenhauer, Bernard Lortholary. Herzlichen Glückwunsch, mes félicitations!