„Warum singt der Franzose anders als er spricht?“
19.12.2016

Dankesrede bei der Verleihung des Kythera-Preises

Es gibt wenige Auszeichnungen, die eine derart illustre Gruppe von Preisträgern aufweisen wie der von Gabriele Henkel gestiftete Kythera-Preis: Patrice Chéreau, Claudio Abbado, Renzo Piano, Claudio Magris, Luc Bondy, Volker Schlöndorff, um nur einige zu nennen: Sie alle haben sich große Verdienste „um den Kulturaustausch zwischen Deutschland und den romanischen Ländern“ erworben. Dass ich mich nun zu dieser Gruppe zählen darf, ist mir eine große Ehre.

Die meisten Stifter geben ihrer Stiftung den eigenen Namen. Sie, verehrte Gabriele Henkel, haben dies nicht getan – oder doch? Beim Namen „Kythera“ denken wir an die Gemälde Antoine Watteaus, wir assoziieren Sensibilität, savoir vivre, formbewusste Zivilisation, Lust zur schönen Utopie, Abschied vom Alltag und mutigen Überschwang. Die Kythera-Stiftung – das ist Gabriele Henkel.

Mein Dank für die Zuerkennung des Kythera-Preises 2016 gilt der Stifterin sowie Dr. Johannes Willms und Andreas F. Wilkes als den Vorsitzenden im Kuratorium der Stiftung.

Ich danke meinem Laudator Michael Krüger, dem großen Lyriker und Romancier, meinem Verleger und Freund.

Den Laudator zu finden, ist der schwierigste Teil bei einer Preisvergabe. Leichte Irritationen, ja Peinlichkeiten bleiben dabei nicht aus. Ich weiss, wovon ich rede. Das Telefon klingelt: „Es geht um den X-Preis. Die Verleihung soll am 3. Juli stattfinden.“ Ich falle dem Anrufer ins Wort: „Der Termin passt. Ich nehme den Preis an.“ Der Anrufer reagiert mit belegter Stimme: „Hmm. Wir wollten Sie um die Laudatio für Herrn Y bitten, der in diesem Jahr den Preis erhält.“ Herr Y ist mir mäßig bekannt und meine Wertschätzung für ihn hält sich in Grenzen, aber dem Termin habe ich bereits zugestimmt und nun sitze ich in der Falle, ich bin Laudator. Die Peinlichkeit lässt sich nur vermeiden, wenn der gewünschte Laudator selbst einmal Preisträger war. Hier ist es der Fall, ich gratuliere Michael Krüger zum Kythera-Preis 2013.

Deutsch-Französische Wahlverwandtschaften in Kultur und Politik haben mich schon früh interessiert. Heute abend erzähle ich von einer Wahlverwandtschaft, in der Antoine Watteaus Gemälde Einschiffung nach Kythera eine wichtige Rolle spielt. Es ist eine historische Episode, aber sie verknüpft sich bei mir mit der festen Überzeugung, dass die deutsch-französische Kooperation auch in Zukunft Europa prägen wird.,

1891 ist Romain Rolland, der spätere Literaturnobelpreis-Träger, „bei Wagners in Bayreuth zum Essen eingeladen“. Ein anderer Tischgast, „blonder Schnurrbart, helle Augen, helles Gesicht“, kommt ihm wie ein „Landjunker“ vor, auf alle Fälle hat er keinen Musikerkopf. Aber es ist ein Kapellmeister und ein Komponist dazu: Richard Strauss. Sieben Jahre später erlebt Romain Rolland bei einem Konzert in Paris, wie Strauss seine Symphonische Dichtung Also sprach Zarathustra dirigiert. Rolland ist verstört: „Heda! Aufgepaßt! Ich habe den Eindruck, dass Deutschland das Gleichgewicht seiner Allmacht nicht mehr lange bewahren wird. Der Wahnsinn schwirrt in seinem Gehirn. Nietzsche, Richard Strauss, Kaiser Wilhelm – es liegt etwas von Neronismus in der Luft.“

Im April 1898 besucht Rolland Richard Strauss in seiner Charlottenburger Wohnung. Streng zensiert er die Französisch-Kenntnisse des Gastgebers: „Mühsam aber ausreichend“. Bereits einen Monat später sehen sich beide in Düsseldorf wieder, wo Romain Rolland das Musikfest besucht. Die Gärten am Rhein sind zauberhaft, notiert er in seinem Tagebuch, aber überall imponieren militärische Denkmäler, auf einem umkrallt der preußische Adler den Erdball: „Nirgends“, so Romain Rolland, „hat man den Erinnerungen an Krieg und Eroberer so viel Raum gewährt.“ Das Konzert findet in der Tonhalle statt, der erste Eindruck ist überwältigend, Rolland fühlt sich „wie in Bayreuth“. Richard Strauss dirigiert. Im Vorspiel zu Parsifal hört der musikalische Connoisseur „die unvermeidlichen Patzer im Orchester“, eine Bachkantate klingt so schön, „dass man vor Freude jauchzen könnte“, doch wird die Freude durch den Anblick der Sopranistin geschmälert, „häßlich wie die Direktorin eines Mädchengymnasiums mit dem goldenen Kneifer auf ihrer dicken Nase, rundem Gesicht und roten Armen“. Zum Höhepunkt wird die Missa Solemnis, „In bestimmten Augenblicken stellt man sich vor, wie Beethoven sich mit beiden Fäusten am Rande des Abgrunds anklammert und singt.“

Die Pausen treiben den Franzose zu völkerpsychologischen Studien, unentwegt essen die Deutschen, drängeln sich rücksichtslos um „ein Brötchen und einen falschen, aromatisierten Champagner“. Strauss dirigiert eigene Werke, die Symphonische Dichtung Ein Heldenleben wird mit Ovationen gefeiert, „Die Deutschen haben den Dichter des Sieges gefunden“. Romain Rollands Schlussbemerkung wird zu einem melancholischen Resümee der deutsch-französischen Beziehungen: „Wir nehmen hier unter diesen Menschen nicht mehr den Platz ein, der uns früher gebührte. Ein Franzose mehr oder weniger, das ist ihnen ziemlich gleichgültig. Sie sind so hochmütig zu glauben, dass auf Erden nur ihre Meinung gilt. Sie bringen es fertig, einem zu sagen: ‚Es ist merkwürdig, ich hätte niemals geglaubt, dass Sie einen so guten Geschmack haben’ … Der Sieg ist über sie gekommen und hat seine Spuren hinterlassen. Sie leben in Erwartung des nächsten Sieges. Jeder einzelne von ihnen ist noch ziemlich schüchtern, wenig selbstsicher. In der Masse sind sie stark, engstirnig und eingebildet. Arme Menschen! Einst waren wir so. Mögen sie ihre Jugend genießen.“ Zum Musikfest hatte die Revue de Paris Romain Rolland entsandt, für sie schreibt er ein enthusiastisches Porträt von Richard Strauss, der auf die Zusendung des Artikels umgehend antwortet: „Noch nie hat mich eine kritische Beleuchtung meiner Persönlichkeit u. meiner Arbeiten so wohltuend berührt, wie Ihr Aufsatz.“

Im Jahr darauf dirigiert Richard Strauss mit dem Lamoureux-Orchester zwei Konzerte in Paris, im Brief an den Vater schwärmt Strauss von der „vollendeten Technik“ der französischen Musiker und von „tadellosen Restaurants mit vollendeter Bedienung“. Er lädt sich beim Ehepaar Rolland zum Essen ein; seine Manieren sind schlecht, er stopft sich mit Süßigkeiten voll wie ein kleines Kind, verhält sich Tischgästen gegenüber ruppig. „Seine Unterhaltung läßt mich erkennen“, schreibt Romain Rolland, „wie sehr ich recht hatte, in ihm den typischen Künstler des neuen deutschen Kaiserreiches zu sehen, den kraftvollen Widerschein dieses heroischen Dünkels am Rande des Wahnsinns … von jenem egoistischen und praktischen Idealismus erfüllt, der die Kraft anbetet und die Schwäche verachtet“.

Die Münchner Charakterzüge aber, die bei Strauss nicht zu verkennen sind, machen es unmöglich, ihn nicht sympathisch zu finden, auch wenn er, ein schlechtes Französisch stammelnd, immer wieder die deutsche Herablassung gegenüber den Franzosen zu erkennen gibt. Seine „germanische Eigenliebe“ wirkt so penetrant, dass sie Romain Rolland dazu bringt, über die „eigenartige Hartnäckigkeit“ nachzudenken, „mit der fast alle Deutschen heutzutage die moralische Größe der Macht hervorheben und deren legitime Vorherrschaft über das Recht. Ich meine, dass dieses nicht der Fall wäre, wenn die Deutschen sich nicht ganz und gar der Tatsache bewusst wären, dass sie das Recht brechen und immer gebrochen haben und überdies gewillt sind, niemals auf die Vorteile ihres ungerechten Verhaltens zu verzichten.“ Kein Wunder, dass Strauss von allen Stücken, die er in Paris dirigiert, Ein Heldenleben wieder am besten gelingt. Auf dem Heimweg vom Konzert aber lässt bei Romain Rolland der Eindruck des Heroismus deutlich nach: „Richard Strauss ist schlecht angezogen, mit einem viel zu kurzen Gehrock, der hinten hochrutscht, und seine langen Beine scheinen zu schlottern. Nichts Heroisches. Oh, wie weit entfernt von einem Helden!“

Am nächsten Morgen holt Romain Rolland Strauss vom Hotel ab. Es geht in den Louvre: „Ich zeige ihm die Säle des 18. Jahrhunderts, die königlichen Gemächer und die Zeichnungen. Er ist sehr neugierig darauf, das französische Rokoko kennenzulernen. Er hat echtes Kunstverständnis und Sinn für die modernen Richtungen. Er bewundert Chardin sehr, dessen Technik ihn an Velazquez erinnert, … Fragonard amüsiert ihn … Boucher enttäuscht ihn ein wenig. Er beurteilt Greuze nicht allzu streng, er hat etwas zu viel Sympathie für die Landschaften von Vernet, und er erkennt die Überlegenheit des großen Watteau: Er meint, dass die Einschiffung nach Kythera eine Märchenmalerei sei. Das Glück und die Leichtigkeit, die dieses 18. Jahrhundert verströmt, berühren ihn angenehm.“ Glück und Leichtigkeit: Watteaus Gemälde beschert Richard Strauss, was Goethe seine französischen Tage nannte, Tage, an denen ihm leicht und ungezwungen zu Mute war und er sich zutraute, in der fremden Sprache zu parlieren.

Schon vor der Paris-Reise hatte Richard Strauss im Berliner Kupferstichkabinett stundenlang die Watteau-Bildermappen studiert, doch erst der Anblick des Embarquement pour Cythère ließ seine musikalische Phantasie produktiv werden. Am Abend des Louvre-Besuchs notiert er in seinem Kalender: „Ideen zum Ballett Die Insel Cythère nach Antoine Watteau“. Originell ist Strauss nicht, L’Embarquement pour Cythère regt um die Jahrhundertwende eine Reihe von Komponisten, darunter Alexander Glasunov, zu Balletten an, Claude Debussy bringt im Klavierstück L’Isle joyeuse seine Bewunderung für Watteau zum Ausdruck. Gegenüber Romain Rolland klagt Strauss, im letzten Jahr habe er „nur einige kleine Dinge“ komponiert, er – der 36Jährige! – leide an Altersschwäche, er wolle ein Ballett schreiben. Der Louvrebesuch führt dazu, dass er ein dreiaktiges Libretto und Szenario für ein Ballett mit dem Titel Die Insel Kythera entwirft. In dem in 25 Skizzen detailliert ausgearbeiteten Libretto – von der Partitur sind immerhin Bruchstücke vorhanden – nutzt Strauss die unterschiedlichen Fassungen des Gemäldes von Watteau als Hintergrund, Spuren der Partiturfragmente tauchen später im Rosenkavalier, in Ariadne auf Naxos und der Josephslegende auf – ein Menuett und eine Gavotte finden sich im Bürger als Edelmann wieder.

Das Kythera-Projekt wuchs Strauss ans Herz – so sehr, dass er Hugo von Hofmannthals Bitte ablehnte, sein Ballett-Libretto Der Triumph der Zeit zu vertonen, Kythera, das ihn verzauberte, duldete keine Nebenbuhler. Strauss, in dem Romain Rolland bei seinem Düsseldorf-Besuch das Heldisch-Teutonische verabscheut hatte, gestand seinem Pariser Gastgeber, dass er die französische Seite in sich entdeckt hatte: „Ich bin kein Held; ich habe nicht die nötige Kraft dazu; ich bin für den Kampf nicht geschaffen; ich ziehe mich lieber zurück, will meine Ruhe, suche den Frieden. Ich habe nicht genug Genie. Mir fehlen Kraft und Gesundheit; und der Wille. Ich will mich zu nichts zwingen. Ich fühle jetzt, dass ich sanfte, glückliche Musik machen muss.“ Kythera. Ein Kythera aber, in dem das Leben nicht nur sanft und glücklich fließt – in das Libretto komponiert Strauss einen Konflikt zwischen den bäurischen Inselbewohnern und den adligen Liebespilgern, der so heftig wird, dass die Pilger Kythera fluchtartig verlassen. Der Bauerndreher vertreibt das Menuett, Watteau wird konfrontiert mit Teniers.

Die Insel Kythera, der bis dahin am weitesten fortgeschrittene Plan von Richard Strauss zu einem Ballett, blieb unvollendet, nicht weil Strauss zu wenig, sondern weil er zu viel in das Projekt investiert hatte. Als im Mai 1939 die Herausgeber der Schweizerischen Musikzeitung Strauss baten, das Szenario für das Kythera-Ballett abdrucken zu dürfen, lehnte dieser ab: „Kythera ist viel zu umfangreich. Füllt drei Ballettabende.“

In Paris entdeckte Strauss seine „französische Seite“. Er übertrieb dabei gelegentlich die Verdienste seiner Frankophilie; als nach einem Konzert in der französischen Hauptstadt ein Besucher ihm zuflüstert: „Ich kann Ihnen ankündigen, dass der Präsident die Absicht hat, Ihnen den Orden der Ehrenlegion zu verleihen“, da antwortet Strauss: „Ich habe ihn wirklich verdient!“ Bei Romain Rolland, der schon lange plante, einen ‚roman musical’ zu schreiben, verdichten sich unterdessen die Motive eines deutsch-französischen Kulturenvergleichs auf musikalischer Grundlage. Sie münden schließlich in den zehnbändigen ‚roman-fleuve’ Jean-Christophe, der Geschichte des deutschen Komponisten Johann Christoph Krafft, der als junger Mann nach Frankreich kommt, sich dort – nicht frei von Konflikten – assimiliert und schließich in seiner Musik versucht, deutsche Energie und französischen Esprit miteinander zu verschmelzen. Wahlverwandtschaft: Eine an der Université Stendhal in Grenoble verfasste Dissertation hat aufgezeigt, wie sehr bis in Details die Figur des Johann-Christoph Krafft nicht nur Beethoven sondern mehr noch Richard Strauss nachempfunden ist, der ‚roman-fleuve’, der Autor konnte es noch so oft abstreiten, ist auch ein Schlüsselroman. Im Briefwechsel zwischen Romain Rolland und Richard Strauss spielt Jean-Christophe kaum eine Rolle, beiden verbietet die Diskretion, den Roman zu entschlüsseln.

Der Briefwechsel zwischen Romain Rolland und Strauss ist extraordinär, er ist es nicht zuletzt, weil beide Briefpartner die Routine-Äußerungen guten Willens, welche bis heute den deutsch-französischen Dialog oft in watteweiche Unverbindlichkeit führen, vermeiden, sich vor Dissonanzen nicht scheuen und sich eng an die Sache halten: das musikalische Werk. Das gelingt, weil der spätere Literaturnobelpreisträger Fachmann ist, seine thèse behandelt die Geschichte der Oper vor Sully und Scarlatti, er wird Dozent für Musikgeschichte an der Sorbonne, verfasst Biographien von Beethoven, Händel und Berlioz.

Im Juli 1905 bittet Strauss Romain Rolland um Hilfe: Er arbeitet an einer französischen Fassung seiner Oper Salome, deren Libretto auf dem in Französisch verfassten Text von Oscar Wilde beruht.  Große Schwierigkeiten bereitet es ihm, die musikalische Phrasierung dem Originaltext anzupassen, auf entscheidende Fragen findet er keine Antwort: „Müssen im Französischen beim Gesange alle unbetonten Endsilben betont werden?“ Rolland antwortet verständnisvoll: Ja, das stumme e sei eine große Schwierigkeit der französischen Sprache, aber auslassen dürfe man es keinesfalls: „Es ist einer der zauberhaftesten Reize unserer Dichtung; es kommt selten vor, dass ein Ausländer dies richtig erfasst. Es ist weniger ein Ton als eine Resonanz, ein Echo der vorhergehenden Silbe, das vibriert, das schwingt und ganz leise in der Luft verklingt.“ Er rät Strauss, sich Pelléas et Mélisande zu beschaffen und sich an dem Meisterwerk zu orientieren, das Debussy mit der Vertonung des Textes von Maeterlinck gelungen sei. Strauss lässt sich Pelléas et Mélisande kommen - und gerät in Rage. Er findet bei Debussy „dieselbe Nonchalance der Deklamation, die mich von jeher an aller französischen Musik so sehr verwundert hat. Warum singt der Franzose anders als er spricht?“ Nun packt Romain Rolland der Zorn, er vergisst seinen Roman, antwortet auf der Stelle und watscht Richard Strauss ab: „Ihr seid erstaunlich, ihr anderen, ihr Deutschen; ihr versteht nichts von unserer Dichtung, absolut nichts; und ihr beurteilt sie mit einer unerschütterlichen Sicherheit … Ich sehe wohl, dass Sie gar kein Gefühl für unsere literarische französische Sprache aufbringen können … Was sie ‚Nonchalance der Diktion’ nennen, ist in Wirklichkeit Eleganz und psychologische Wahrheit.“ Und dann endet eine lange Lektion über Probleme der Betonung im Vorwurf: „Zur Zeit seid ihr in Deutschland zu hochmütig. Ihr glaubt, alles zu verstehen und gebt euch gar keine Mühe, wirklich zu verstehen. Umso schlimmer für euch, wenn ihr uns nicht versteht. Wir existieren deswegen nicht weniger, und wir haben vor, noch lange zu existieren, wie ich hoffe.“

Wiederum nur einen Tag später antwortet Strauss, bedankt sich in fast unterwürfigem Ton für den „so interessanten Brief“, er weiss, dass er keinen besseren Korrektor für sein französisches Libretto finden wird. Seine Contenance aber verliert er, als ihm wiederum Debussy als Vorbild genannt wird: „Ich frage nochmal: warum singt der Franzose anders als er spricht? Bei uns hat Wagner das Gefühl für den Sinn der Sprache wieder neu entdeckt. Frankreich scheint mir noch in der Unnatur der Kothurntragödie des 18. Jahrhunderts zu stecken! Bitte belehren Sie mich, wenn es Ihnen möglich ist, sich selbst aus alter Gewohnheit loszulösen!“ Romain Rolland fühlt sich provoziert, es kommt zum deutsch-französischen Sprachenstreit: „Die französische Sprache ist unser schönstes Kunstwerk, und Sie erwarten, dass wir sie selber zerschlagen? Wir in Frankreich sind zu sehr Künstler. Unsere Sprache stirbt erst mit uns selbst.“

Dass Richard Strauss im Spott über die Kothurntragödie seine Herablassung gegenüber dem französischen Hexameter zu erkennen giebt, zwingt Romain Rolland zu einem privatissime in französischer Kulturgeschichte. Die strenge Form der Dichtung ist nötig zur Affektkontrolle, sie ist ein Garant der Zivilisation: „Ich bin so gut wie sicher, dass man darin einen der Gipfel der menschlichen Kultur erblicken kann: eine primitive, ganz unveränderte Animalität unter dem Schleier einer höchst raffinierten äußeren Form.“ Wie gewünscht, belehrt der Franzose den Deutschen, die Zivilisation ruft die Barbarei zur Ordnung. Trotz Sprachenstreit und Kulturenkampf aber kommt es zu einer engen Kooperation, fast einer Ko-Produktion am Libretto der Salome. Am Ende hat Romain Rolland den Text mit enthusiastischer Präzision an fast 200 Stellen korrigiert.

Der normale Franzose, schrieb Rolland, habe kein Gefühl für Musik, aber dafür besitze er wenigstens den Anstand, auch selbst keine Musik zu machen. Anders der Deutsche: „Jeder Hergelaufene, jeder Beamte, Offizier oder Bankier, der ganz und gar materiell gesonnen ist, hält es für sein gutes Recht, auf seiner Geige zu schaben oder sein Klavier zu verhauen, vom Morgen bis zum Abend, Beethoven, Bach, Wagner, natürlich Brahms und  natürlich auch Richard Strauss, Musik auf Teufel komm raus, Hauptsache Töne und Klänge werden absorbiert, so nachdrücklich wie man Würstchen ißt oder sein Bier trinkt.“

1905 schloss Romain Rolland seinen Bericht vom ersten Elsaß-Lothringer Musikfest, das in Straßburg stattfand, mit der Warnung: „Es gibt in Deutschland zu viel Musik. Das ist kein Paradox. Ich glaube, dass es für die Kunst kein schlimmeres Unglück gibt als dieses zügellose Überangebot an Musik. Die Musik ertränkt die Musiker. Musikfeste folgen auf Musikfeste … Das musikalische Deutschland ist im Begriff, in der Überschwemmung durch die Musik unterzugehen.“ Die Wertschätzung, ja Verehrung für Richard Strauss wurden von diesem Verdikt nicht betroffen. Im Elsaß, dem „ewigen Schlachtfeld“, wie er es nannte, ahnte Romain Rolland die nächste kriegerische Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Deutschland voraus, eine Konfrontation „dieser beiden Kulturvölker, die seit Jahrhunderten auf elsäßischem Boden zusammengestoßen sind, vor allem, um sich zu bekämpfen, nicht um sich zu verstehen.“ Die Freundschaft zwischen Romain Rolland und Richard Strauss überstand den Ersten Weltkrieg. Der Enthusiasmus des Franzosen für die deutsche Musik blieb und zu den letzten brieflichen Äußerungen von Richard Strauss zählt der Glückwunsch an André François-Poncet, als dieser nach Ende des Zweiten Weltkriegs zum Hohen Kommissar in Deutschland ernannt wird: „Leider bin ich krank und kann Ihnen nicht ausführlich genug schildern, was mein Herz erfüllt, wenn ich an Deutschland denke, an Frankreich, an die Zukunft Mitteleuropas.“ Kurz vor Ende des Krieges war noch einmal vom Kythera-Projekt die Rede. Die „französischen Tage“ waren nicht vergessen.

Mit der Zuerkennung des Kythera-Preises haben Sie, verehrte Gabriele Henkel als Stifterin und Sie, Herr Willms und Herr Wilkes als Mitglieder der Jury, mir eine große Ehre und Freude gemacht. Mit dieser Preisverleihung haben Sie, zusammen mit meinem Laudator Michael Krüger, mir einen „französischen Tag“ beschert, leicht und unbeschwert ist mir zu Mute und ich traue mir zu, in einer fremden Sprache zu parlieren: Madame, Messieurs,chers amis, de tout mon cœur: Merci!

Wolf Lepenies