Der Präsident und das Wörterbuch
31.01.2017

Académicien Wolf Lepenies gehörte zur offiziellen Delegation von Bundespräsident Joachim Gauck bei dessen Abschiedsbesuch in Frankreich

Einer seiner letzten Auslandsbesuche führte Bundespräsident Joachim Gauck in der letzten Woche nach Paris. Auch wenn es sich um keinen Staatsbesuch handelte, wurde Gauck im Elysée-Palast von François Hollande empfangen, dessen Amtszeit ebenfalls in wenigen Wochen zu Ende geht. Höhepunkte des Paris-Besuchs waren die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Sorbonne an Gauck sowie die Teilnahme an einer geschlossenen Arbeitssitzung der Académie française. Im großen Amphitheater der Sorbonne wie unter der Kuppel am Quai Conti wurde deutlich, wie eng und herzlich trotz wirtschaftspolitischer Divergenzen die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich geblieben sind.

In seinen Gesprächen mit Eckermann hat Goethe die Faszination beschrieben, die auf den deutschen Besucher Paris ausübt, eine Weltstadt, „wo jeder Gang über eine Brücke oder einen Platz an eine große Vergangenheit erinnert und wo an jeder Straßenecke ein Stück Geschichte sich entwickelt hat“. Die Liebe zu Paris, die „kulturelle Hauptstadt Europas“, diesen „Sehnsuchtsort“, stellte Gauck in das Zentrum seiner Dankesrede an der Sorbonne. Er lud die Zuhörer zu einem Spaziergang durch das Quartier Latin ein und zeigte an vier Orten – der Sorbonne, der Kathedrale Notre-Dame, dem Hôtel-Dieu und dem Hôtel de Cluny – worin das „Kostbarste und Wertvollste besteht, das unser Europa ausmacht“.

Es handelte sich dabei nicht nur um eine von Bewunderung bestimmte Topographie. Gauck nutzte seinen „Spaziergang“ um politischen Überzeugungen Ausdruck zu verleihen, zu denen untrennbar eine entschiedene Werthaltung gehört. Die Geschichte der Sorbonne, unter deren Gelehrten sich früh der Geist der Kritik und Selbstkritik herausbildete, mahnt daran, dass „eine sogenannte ‚post-faktische’ Einstellung zur Wirklichkeit oder gar eine Post-Truth-Philosophie“ die Grundlagen der Zivilisation in Frage stellen – im alten Europa wie in der Neuen Welt. Das Wunderwerk einer gothischen Kathedrale wie Notre-Dame erinnert daran, dass es „Wirklichkeiten gibt, die uns übersteigen, es lohnt sich, etwas aufzubauen, das erst für unsere Kinder und Kindeskinder wirksam wird“ – neben der Tagespolitik gibt es auch eine Politik der „longue durée“. Im Hospital Hôtel-Dieu wird der Besucher daran erinnert, dass „die Pflege der Kranken und Sterbenden, die Sorge um die Armen und die Heimatlosen von Anfang an ein inhaltliches Erkennungszeichen Europas, der Idee von Europa“ war – die Europäische Union droht ihren moralischen Halt zu verlieren, wenn sie nicht endlich zur Solidarität in der Flüchtlingspolitik findet.

Sucht man nach einem Begriff, der die Haltung Joachim Gaucks zusammenfassend kennzeichnet, findet man ihn im „Discours en l’honneur de Goethe“, den Paul Valéry zum 100. Todestag des Dichters in Gegenwart des französischen Staatspräsidenten am 30. April 1932 in der Sorbonne hielt. An diese Rede erinnerte der Präsident der Universität Paris-Sorbonne, der Kunsthistoriker Barthélémy Jobert, in seiner Laudatio für Joachim Gauck. Valéry hatte den Eindruck, Goethe verfüge über einen typisch deutschen Trick, um stets „tief“ zu erscheinen, den auf Klarheit verpflichteten Franzosen ärgerte es, dass er diesem Trick nicht auf die Spur kam. Und doch hat „diesem schillernden und unfassbaren Goethe“ niemand größeren Tribut gezollt als Valéry in seiner Rede an der Sorbonne. In den Mittelpunkt seiner Rede stellte Valéry die Begegnung Goethes mit Napoleon im Oktober 1808 in Erfurt. Zwei Auguren der Moderne begegneten einander, zwei Propheten einer neuen Zeit, zwischen denen sich eine eigenartige Sympathie herstellte. Valéry träumte: Wie würde sich die Welt und insonderheit Europa entwickelt haben, wenn Geist und Macht, Kultur und Politik ihre Kräfte vereint hätten? Valéry sprach von einer „politique de l’esprit“, einer Geistespolitik: der Einheit von Wort und Tat. In seiner Rede vor der Sorbonne machte Joachim Gauck deutlich, dass auch für ihn die Utopie einer Geistespolitik Orientierungszeichen und Richtschnur ist.

Den Dr. honoris causa der Sorbonne zu erhalten, ist auch für ein Staatsoberhaupt eine große Ehre. An einer nicht-öffentlichen Arbeitssitzung der Académie française teilnehmen zu dürfen, ist eine Seltenheit, „rarissime“, wie die Ständige Sekretärin („sécrétaire perpétuel“) der Akademie, die 87jährige Politikerin und Historikerin Hélène Carrère d’Encausse, die 1999 als erste Frau auf diesen Posten gewählt wurde, hervorhob. Glaubt man den Mitarbeitern der Akademie, so war der letzte deutsche Staatsmann, der zu einer Sitzung der Akademie eingeladen wurde, im Februar 1789 der Prinz Heinrich von Preußen, der ungeliebte Bruder Friedrichs des Großen. Im Kapitel „Rheinsberg“ der „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ hat Theodor Fontane dem Freund Frankreichs und der französischen Sprache ein Denkmal gesetzt.

Bei aller Sympathie für den Prinzen erkannte Theodor Fontane, dass sich hinter dessen Begeisterung für Frankreich mehr Überschwang als innere Überzeugung verbarg. Den großen Worten folgten kaum Taten und so zog Fontane ein nüchternes Resümee: „Aus dieser Welt der Freiheitsphrase sind wir heraus, aber, Gott sei Dank, dem Wesen der Freiheit sind wir näher gekommen.“ Mit Joachim Gauck empfing die Akademie jetzt einen Staatsmann, der seinen Rang und seine Anerkennung nicht der Freiheitsphrase, sondern dem mutigen, mit hohen persönlichen Risiken verbundenen Kampf für die Freiheit verdankt.

Es gibt auch in Frankreich nur wenige Institutionen, die sich ohne Abstriche ein Zeremoniell bewahrt haben, das bis in ihr Gründungsjahr – in diesem Fall 1635 - zurückreicht. Über allem aber steht die Verpflichtung, über die französische Sprache zu wachen. Dezent wurde Joachim Gauck auf die Bedeutung hingewiesen, die in Frankreich bis heute der Sprachpolitik zukommt, als er zu dem Büchertisch geführt wurde, den die Bibliothekare der Akademie für ihn vorbereitet hatten. Dort fand sich neben Publikationen zum Lutherjahr das Lob der französischen Sprache, mit dem Antoine de Rivarol 1784 den Preis der Berliner Akademie gewonnen hatte. Die universelle Bedeutung des Französischen, so Rivarol, liegt darin, dass es keine andere Sprache gibt, in der einem Klarheit und Deutlichkeit geschenkt werden, wenn man sie korrekt spricht und schreibt. An dieser Überzeugung hat sich bis heute in Frankreich wenig geändert. Im „Dictionnaire“ der Akademie werden daher keine Worte gesammelt, hier wird über den Sprachgebrauch Gericht gehalten. Dabei kann es zu heftigen Auseinandersetzungen kommen wie im Falle eines Philosophen, der sich der Aufnahme des Wortes „baser“ (aufbauen) widersetzte: „Wenn es eintritt, trete ich aus“.

Durch seinen Besuch in der Académie française wurde Joachim Gauck nicht „unsterblich“, aber eine Ehrung wurde ihm zuteil, die in der Regel für die „Immortels“ reserviert ist, denen bei ihrer Wahl in die Akademie ein Wort des berühmten „Dictionnaire“ gewidmet wird. Gauck wurde das Wort „romantisme“ gewidmet. Schon auf dem Flug nach Paris hatte Gauck erzählt, dass für ihn der Eintrag „romantisme“ im Wörterbuch der Akademie die Bedeutung des Wortes ästhetisch einenge. Notwendig sei es, stärker die Folgewirkung der politischen Romantik hervorzuheben, die in Deutschland für das Abgleiten in einen schwärmerischen, emotional aufgeladenen Autoritarismus mitverantwortlich war. Die „Académiciens“, die vor dem deutschen Präsidenten voller Begeisterung Schelling und Hölderlin, Novalis und Goethe zitierten, versprachen, den Eintrag „romantisme“ zu erweitern und zu korrigieren. Ein deutscher Präsident, der einen Eintrag im „Dictionnaire“ der Académie Française verändert – „rarissime“, in der Tat.

Von Wolf Lepenies