2016

Prof. Patricia Oster-Stierle – Laudatio auf Cécile Wajsbrot

„W wie ihr Name. Ein seltsamer Buchstabe wie kein anderer. Im Deutschen ist es ein einfacher Buchstabe wie v, aber auf nennt man ihn doppeltes V, wofür braucht man ein doppeltes V?“

So heißt es in dem zweisprachigen Hörspiel W wie ihr Name/ Avec un double V, das Cecile Wajsbrot 2012 mit dem SR produziert hat. In diesem autobiographisch geprägten Hörspiel geht es ganz wesentlich um das Erlernen der deutschen Sprache. So berichtet die Schülerin von ihren ersten Deutschstunden in einem Pariser Gymnasium Anfang der 60ger Jahre: „Ich lerne die Sprache eines Landes gegen das alles und alle uns aufbringen wollen, obwohl der Krieg seit 15 Jahren vorbei ist. Ich bin noch nicht einmal 15 und fürchte mich mehr vor den Fällen, der Grammatik, als vor dem Krieg.“ Warum hat sie Deutsch gelernt? Auch das erfahren wir in diesem Hörspiel: „une deuxième langue - sich in andere Klänge einzuschleichen, in andere Strukturen und sich trotzdem wiedererkennen können, die Sprache des Feindes, die aber ähnelt der Sprache meiner Familie comme une cousine, une sœur, ich möchte gern, dass Du mich verstehst, wenn ich in dieser Sprache spreche, sagt meine Großmutter, aber nie hätte sie daran gedacht, sie mir beizubringen.“ Die Schülerin empfindet das Deutsche als eine Zwillingssprache: „Manchmal höre ich die Zwillingssprache in Dir, die mich begleitet, die noch immer meine Mutter, meine Großmutter spricht, die Zwillingssprache hindert sie Dich daran, mich zu lernen? Ich weiß es nicht, manchmal kommt mir alles vertraut vor, manchmal feindlich, wie eine unbekannte Gefahr, unbestimmbar.“ In einer eindringlichen Selbstbefragung erforscht Cecile Wajsbrot die inneren Stimmen, die es der Schülerin unmöglich machen, der eigenen Geschichte zu entfliehen – die aber zugleich auch eine Annäherung an das Fremde zu erlauben scheinen, das dem vertrauten Jiddisch so nah kommt: „Manchmal gelingt es mir zu denken, es ist eine Sprache wie andere auch. Meine Großeltern wurden in dieser Sprache getötet. Ich kann sie sehen winkend, weit entfernt wie zum Abschied. Die Schleusen schließen sich. Ich kann nicht mehr sprechen. Jetzt kommt die Zeit der Versöhnung. J’entends ce mot souvent à la radio. La réconciliation franco-allemande. Doch sind die Erinnerungen immer noch wach und nicht alle fühlen sich unbedingt versöhnt. Du sollst in der Gegenwart leben. Aber jedes Jahr nehme ich an Zeremonien teil, die der Vergangenheit gedenken und des Todes in Auschwitz, der meine Kindheit verdunkelt hat. Schatten, die zu meinem Bett kamen und am nächsten Tag bin ich wieder im Gymnasium und lerne deutsch.“

Cecile Wajsbrot ist 1954 in Paris geboren, als Tochter polnischer Juden; ein Großvater wurde in Auschwitz ermordet, und ihre Mutter ist der Razzia des Wintervelodroms vom Juli 1942 nur knapp entgangen. Sie studierte Literaturwissenschaften, arbeitete als Französischlehrerin am Gymnasium, war Redakteurin bei den Nouvelles Littéraires und Literaturkritikerin beim Magazine Littéraire. Seit 1982 hat sie in Frankreich 18 Romane und Erzählbände und fünf Essays veröffentlicht, zuletzt in diesem Jahr ein Gespräch über die deutschen Wurzeln Hélène Cixous’, Une Autobiographie allemande. Ihre Streitschrift Pour la littérature (2001) fand große Beachtung, weil sie sich von der Vorherrschaft der Form und dem Begriff der écriture, wie sie der nouveau roman propagiert hatte, abwendet und ein Plädoyer für das Erzählen von Geschichten und die Verantwortung des Schriftstellers hält. Zugleich arbeitet Cécile Wajsbrot als literarische Übersetzerin aus dem Englischen und dem Deutschen, u.a. hat sie Virginia Woolf, Gert Ledig, Stefan Heym und den Roman Kaltenburg des diesjährigen Georg-Büchner-Preisträgers, Marcel Bayer, ins Französische übersetzt. 2014 erhielt sie den Helmlé-Übersetzerpreis. Auf Deutsch sind im Münchner Liebeskind Verlag bislang fünf Romane erschienen, zwei weitere Romane und ein Essay bei Matthes & Seitz in Berlin.

Es gibt eine Episode in ihrem Werk, die mir als besonders charakteristisch erscheint. Cecile Wajsbrot berichtet in dem Essayband Berliner Ensemble von ihrer vergeblichen Suche nach einer Statue in Berlin, die an den Angelus Novus erinnere. Dieses Bild von Klee hat insbesondere Walter Benjamin fasziniert. Bei ihm heißt es in seinem Text Über den Begriff der Geschichte: „Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. [...] Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet, wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe [...]. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her [...], der ihn unaufhaltsam in die Zukunft treibt, der er den Rücken kehrt [...]. “ Cecile Wajsbrot ist jedoch auf der Suche nach der Verkörperung eines anderen Angelus novus. Der ihre hat ebenfalls den Blick in die Vergangenheit gerichtet, aber er streckt seine Arme der Zukunft entgegen: „une statue – un homme qui tend les bras et regarde de l’autre côté, un homme qui tend les bras vers le futur en regardant le passé. Encore un angelus novus“, beschreibt sie die von ihr in Berlin gesuchte Statue. Cecile Wajsbrot erinnert mich an diese von ihr nicht gefundenen – und vielleicht erfundenen Statue, weil alle ihre Romane von der Last der Erinnerung geprägt sind, den Blick nicht von der leidvollen Vergangenheit lösen und dennoch die leisesten Bewegungen in der Gegenwart wie ein Seismograph erfassen und lesbar machen. „Das Wesentliche meiner Arbeit […]“ erklärt sie programmatisch, „bestand in einer Erforschung der Vergangenheit und seiner Auswirkungen auf die Gegenwart.“ In ihren Augen vermag es die Literatur, Vergangenheit und Gegenwart zu vermitteln: „alles das, was gewöhnlich versteckt wird, ans Tageslicht zu bringen, es an die Oberfläche steigen zu lassen, wie jene Dinge, die die Flut an den Strand spült, nachdem sie seit Tagen, Wochen, Jahren verloren waren.“

In zahlreichen ihrer Texte spürt Cecile Wajsbrot dieses Strandgut auf, ihre Romane Essays und Hörspiele beschäftigen sich immer wieder mit der Last der Vergangenheit, von der sich die Nachgeborenen nicht befreien können. In Memorial begibt sie sich auf eine Reise in die Vergangenheit ihrer Familie in Polen. In La Trahison, Der Verrat, geht es um den kollektiven Gedächtnisverlust der französischen Gesellschaft im Blick auf die Zeit der Kollaboration. Die Fragen einer jungen Rundfunkredakteurin erschüttern hier die Existenz eines Mannes, der sich im Vergessen eingerichtet hat und plötzlich an den viele Jahre zurückliegenden Verrat an seiner jüdischen Freundin erinnert wird.

Besonders eindrucksvoll ist das Verhältnis von Erinnern und Vergessen in dem berührenden Buch über die Alzheimer Erkrankung ihres Vaters, L’Hydre de Lerne - Die Köpfe der Hydra, 2012 auf Deutsch erschienen in der Übersetzung von Brigitte Große. In einer leisen, tastenden, einem eigenen Rhythmus folgenden Sprache beschreibt Cecile Wajsbrot die Krankheit des Vaters. Sie betrachtet den „Rückzug aus der Welt“ als ihre metaphysische Eigenheit: „[...] Das Paradoxe an dieser Abwesenheit ist, dass sie nach Anwesenheit verlangt, wenn man nicht aufgeben und sich gehenlassen will, nach jemandem, der die Last aufnimmt, die man losgeworden ist, und genau das passiert jetzt, ich lebe sein und mein Leben, manchmal fällt es mir schwer, meines zu leben, weil seines überläuft und andere Landstriche überflutet, dabei hatte ich geglaubt, die Abdichtung sei sicher und ich weit genug entfernt.“ Sehr eindrucksvoll wird hier beschrieben, wie die Erinnerungen des Vaters die Tochter, die nunmehr zu ihrem Statthalter wird, geradezu überfluten. Man könnte an dieser Stelle aus Paul Celans Gedicht Sprachgitter zitieren: „Die Welt ist fort, ich muss dich tragen.“

Heute soll vor allem von den Berlin-Romanen Cecile Wajsbrots die Rede sein. Sie kam im Jahr 2000 für sechs Wochen nach Berlin, hat im Rahmen des DAAD-Künstlerprogramms 2008 ein Jahr in Berlin verbracht und lebt inzwischen abwechselnd in Paris und Berlin. 2014/2015 war sie Inhaberin der Samuel-Fischer-Gastprofessur am Peter-Szondi-Institut an der FU Berlin.

Der Fall der Mauer wurde von ihr als einschneidendes Erlebnis wahrgenommen. In ihrem Hörspiel W wie ihr Name/ Avec un double V heißt es: „ Zum ersten Mal spürte ich das Bedürfnis nach Deutschland zurückzukehren, nach Berlin zu gehen. Là où le mur tous les murs étaient tombés. Berlin, die Stadt, die ich gemieden hatte. In der geteilten Stadt waren auch die Flüsse wie gefroren. Plötzlich das Bedürfnis dorthin zu gehen. Berlin die Hauptstadt der Sprache. Die Hauptstadt der Zeit.“  Der Fall der Mauer scheint hier viele Mauern einzureißen und eine Begegnung mit dem Land der Zwillingssprache denkbar zu machen. Berlin wird zugleich in den Augen der Autorin zur Hauptstadt der Zeit, weil es möglich scheint in dieser pulsierenden, lebendigen jungen Stadt, die zugleich tief in der Geschichte verwurzelt ist, Erinnerungsfragmente wie Strandgut an die Oberfläche steigen zu lassen. Nouveau monde und alter Kontinent scheinen hier zusammenzutreffen: „Berlin possédait à la fois les espaces immenses et vides d’un nouveau monde et le long parcours plus qu’accidenté du continent ancien [...]. Je voulais tout connaître [...] où est le présent? – ich wollte alles kennenlernen, wo ist die Gegenwart?“ so charakterisiert sie im Rückblick den Enthusiasmus ihrer Entdeckerfreude in Berliner Ensemble. Nicht eine Melancholikerin wendet sich hier einzig den Gespenstern der Vergangenheit zu, sondern eine französische Autorin entdeckt Berlin mit einem Blick für die neue Urbanität und Weltoffenheit der Stadt.

Die Stadt hat auch ihr Schreiben wesentlich geprägt. Cécile Wajsbrot ist wie George Perec eine Flaneuse, Stadtsemiotikerin und Spurensucherin, sie hat einen neuen Stadtdiskurs erfunden, der in ganz eigener Form die Stadt als Palimpsest der Erinnerung und Ort der zufälligen Begegnung reflektiert.

In ihren Romanen Nation par Barbès (2001), Caspar Friedrich Strasse (2002), Fugue (2005), L’Ile aux musées (2008) und dem Tableau Berliner Ensemble (2015) stehen die Großstädte Paris und Berlin im Zentrum einer Erfahrung von Selbstfindung und Selbstverlust. Als Folie dienen ihr dabei die einer eigenen Stadtsemiotik folgenden Romane Balzacs und die surrealistische Stadterfahrung Aragons und Bretons. Cecile Wajsbrot hat eine große Sensibilität für die sich überlagernden und vielfach überschriebenen Zeichen in der Stadt entwickelt, die in der Gegenwart die Vergangenheit in den scheinbar nebensächlichsten Details hervorbrechen lassen.

Mit dem Roman Nation par Barbès – Im Schatten der Tage in der deutschen Übersetzung – hat Cécile Wajsbrot 2001 den Stadtroman als ein neues Genre entdeckt. Die Pariser Métro ist der eigentliche Protagonist dieses Romans, in dem ein moderner Jason anstelle der Meere das unterirdische Schienennetz der Métro durchfährt, das ihm eine eigene Welt eröffnet, weil er ihre historische Dimension wahrnimmt. Nach diesem Roman in der Tradition der großen Parisromane wechselt Cecile Wajsbrot 2002 den Schauplatz und wendet sich mit ihrem Roman Caspar Friedrich Strasse der Stadt Berlin mit ihrer ganz besonderen Erfahrungsdimension zu. Auf Deutsch ist der Roman in der Übersetzung von Holger Fock und Sabine Müller unter dem Titel  Mann und Frau den Mond betrachtend  erschienen.

Der Text präsentiert sich als Monolog eines Ostberliner Dichters, der nach dem Fall der Mauer ein fiktives Grußwort anlässlich der ‚Tauf-Zeremonie’ für eine neue Straße in Berlin spricht, die dem Roman den Titel gibt: „Caspar Friedrich Strasse“. Das Besondere an der neuen Straße ist ihre Geschichtslosigkeit. Weil sie neu erschaffen wurde, hat sie keine historische Dimension, nie ist ein Unrecht oder ein Verbrechen auf ihr verübt worden, auch die Zeit des Dritten Reichs hat sie nicht erlebt, sie ist in dieser Hinsicht so unschuldig wie ihr Namensvetter Caspar David Friedrich. Die Leerstelle in ihrem Namen ist bezeichnend, es fehlt der Vornahme „David“, der an die dunkle Zeit Berlins gemahnen könnte. Die ehemals geteilte Stadt Berlin ist ein lebendiger Palimpsest der Erinnerung, weil die Spuren der Geschichte noch sichtbar, die Narbe der Teilung noch kaum verheilt ist. Herausragend ist dieses Buch auch, weil in jedem Kapitel ein anderes Bild Caspar David Friedrichs im Mittelpunkt steht, an das sich der Dichter in seiner beständig abschweifenden Rede erinnert und in dem er die heutige Zeit vorweggenommen sieht. So glaubt er in dem Gemälde Die Klosterruine Eldena bei Greifswald, die Ruinen Berlins zu sehen:  „um uns sind überall Ruinen, wenn man nur bereit ist, sie zu sehen. Sicher, ihr Schicksal ist, unter den Neubauten und dem Wiederaufbau zu verschwinden, schließlich haben wir gelernt zu vertuschen und zu verschleiern, die Zukunft aus dem Bestehenden zu gestalten, und auch wenn unsere unverwurzelten Glastürme, die vermeintlich in den Himmel ragen, sich in eine Zukunft aufschwingen, die nachfolgenden Generationen werden die Spur der Vergangenheit darin lesen.“  Die Stadt ist lebendig, sie projeziert sich in die Zukunft mit Straßen ohne Geschichte, doch unsichtbare Narben bestehen fort. In seinen Divagationen vergleicht der Dichter aus dem Roman Caspar Friedrich Strasse den Himmel über Berlin mit dem Himmel über Paris:
„Unser Himmel ist riesig – in Berlin behält der Horizont die Oberhand, hier dominieren nicht städtische Bauten über die weiten Ausblicke wie an der Place de l’Etoile, wo die Avenuen sternförmig vom Triumphbogen ausgehen [...] In Paris enden die Trassen der Avenuen und Boulevards häufig an einem Denkmal oder Kreisel, auf die sie zulaufen, die Höhe der Gebäude und die Enge der Straßen lassen vergessen, dass es noch etwas anderes gibt als Menschen und Autos, als die Stadt, in der uns nichts verlockt, den Blick zu heben [...]. In Berlin behält der Horizont die Oberhand und weist uns einen Weg über die Geschichte hinaus. Haben Sie schon einmal den Krähenflug über dem Reichsstag beobachtet, diese dunklen Wolken, die über unsere Geschichte und ihre Ereignisse fliegen, über die bronzenen Buchstaben Dem Deutschen Volke, die während des ersten Weltkriegs gegossen wurden [...] gegossen übrigens von einem Mann, dessen Familie zwanzig Jahre später, im Dritten Reich, aufgrund ihrer Herkunft vernichtet wurde. Wer ist Deutscher? Der Mann, der die Buchstaben für das Giebeldreieck des Parlaments gießt, oder der andere, der das Parlament auflösen wird. Aber ich sprach vom Himmel.“

Der Vergleich zwischen Paris und Berlin hat auch eine große Bedeutung für die beiden folgenden Berlin-Romane Cécile Wajsbrots, denn der weite Himmel über Berlin, der nicht wie in Paris nur als Kulisse für die Stadt dient, wird gleichsam als eine Befreiung empfunden für die Protagonisten, die Paris verlassen. In der Berlin-Novelle Fugue aus dem Jahr 2005 – „Fugue“ kann man mit Fuge oder auch mit Flucht übersetzen – kommt eine junge Pariserin mit dem Willen sich hier neu zu erfinden nach Berlin: „Ich fange von vorn an, ich weiß nicht mehr wer ich bin, natürlich habe ich einen Namen, aber das ist alles, was mir noch bleibt und vielleicht trifft er nicht mehr auf mich zu.“ Die Großstadt Berlin erscheint als idealer Ausgangspunkt für ihre vita nuova. Wie Nadja aus dem gleichnamigen Roman von André Breton lässt sich die junge Frau in Berlin vom Zufall treiben. Berlin ist wie das Paris der Surrealisten „ein Ort dazu geschaffen für das überraschende Ereignis“. Als Flaneuse der zweckrationalen Ordnung enthoben, überlässt sie sich den Straßen der Stadt: „Meine Schritte führten mich, ich war nirgends, ich ging nirgendwo hin, ich war niemand“. Der Text wird durch schwarz-weiß Photographien von Brigitte Bauer ergänzt, die nicht die berühmten Monumente von Berlin, sondern marginale Orte, Passanten, Graffiti, U-Bahn-Unterführungen, Gleise, Treppen, Ampeln oder verfallende Hochhäuser zeigen. Wie die Protagonistin aus Fugue ist auch Cecile Wajsbrot selbst eine Flaneuse in Berlin. In Berliner Ensemble hält sie ihre eigenen Gänge durch die Stadt fest. Hier heißt es: „Ich bin in Berlin, um im Hier und Jetzt zu leben, aber ganz unerwartet öffnet sich plötzlich unter meinen Schritten der Abgrund der Zeit.“ So nimmt sie auf dem Weg ins Schwimmbad eine Abkürzung durch einen Park, der sich für sie in ein Labyrinth der Geschichte verwandelt, weil hier das Gefängnis Moabit stand – und sie an die Mohabiter Sonette von Albrecht Haushofer denken muss. Sie beschreibt, wie sie durch dichten Rauch in der Wilhelmstraße beunruhigt wird, den sie vom Bus aus sieht. Aus der Zeitung erfährt sie am nächsten Tag, dass hier gerade der Film Operation Walküre über das Stauffenberg Attentat gedreht wurde: „Il y avait bien eu un attentat, mais pour les besoins d’Hollywood.“ – es gab also wirklich ein Attenat, aber um Hollywood zu dienen – heißt es lapidar. Sie endeckt aber auch verwunschene Orte wie das Berliner Lapidarium am Landwehrkanal, ein ehemaliges Pumpwerk in dem Statuen aus der Siegeshalle, aus dem Tiergarten und von den Schlossbrücken ein einsames, vergessenes Dasein fristen. „Friedrich der Erste, Friedrich der Zweite, die Statuen von Bach oder Kant sind in diesem Tempel aus opakem Glas eingesperrt und keiner weiss, was aus ihnen werden soll“, heißt es hier.

In ihrem 2008 veröffentlichten Roman L’Ile aux musées, Die Museumsinsel gibt sie den Statuen eine Stimme. Zugleich führt Cecile Wajsbrot die Städte Paris und Berlin noch enger zusammen, indem sich zwei Geschichten zwischen Paris und Berlin kreuzen. Dieser Roman stellt eine schöne Verbindung zu unserer Preisträgerin vom letzten Jahr, Bénédicte Savoy, her, denn sie hat eine Passage aus diesem Buch in ihrer Anthologie Die Berliner Museumsinsel übersetzt. Der Roman setzt mit einem Portrait ein: „Ein Mann, allein, in der monumentalen Allee, die den Tiergarten durchmißt und zum Brandenburger Tor führt.“ Schon im zweiten Satz wird deutlich, dass es sich um eine Plastik handeln muss, die nunmehr zum Gegensand einer poetischen Reflexion wird:
„Dort zwischen der Siegessäule und dem Brandenburger Tor – zwischen den geparkten Autos, erhebt sich seine harmonische Form auf einem Marmorsockel. Mitten in der Unruhe, im Chaos lädt er zu Ruhe und Kontemplation ein und zieht den Blick auf Grund seiner Einfachheit an, keine Schnörkel lenken das Auge ab, er hat das runde Gesicht römischer Statuen, beide Arme erhoben, die Hände bilden einen Trichter, sie umgeben einen weit geöffneten Mund, dessen Kreis den Bogen eines weit hinausgeschmetterten Wortes umschreibt. Er ist der, der ruft, der Rufer, aber der Schrei, weit davon entfernt sein Gesicht zu deformieren, zeigt die Macht des Wortes, seine Tragweite.“
In dem Roman Wajsbrots hat der Rufer die Funktion eines Prologs. Sein Ruf öffnet den Raum für den stummen Ruf eines Kollektivs von Statuen zwischen Berlin und Paris, deren Stimmen die Autorin laut werden läßt: „Wir stehen Wache. Selbst wenn niemand auf uns achtet – und vielleicht ist es einfacher Wache zu stehen, wenn man nicht beachtet wird. Wir sind aus Stein, aus Bronze, aus Granit oder Marmor, wir sind auf den Brücken, oben auf den Gebäuden oder vor den Museen, wir sind in den Gärten, den Blick starr gerichtet.“ Hat man diesen Text von Cecile Wajsbrot einmal gelesen, so wird man plötzlich überall Statuen in Berlin wahrnehmen. Plötzlich achtet man auch auf den Rufer vor dem Brandenburger Tor. Cecile Wajsbrot öffnet den Blick für diese Stadt. Die Komplexität des in der Tradition Bretons, Aragons und De Chiricos stehenden Werks besteht in der Verwischung der Differenz zwischen den lebendigen und den steinernen Protagonisten des Romans. Wird auf der einen Ebene die Geschichte von einer Französin und einem Franzosen erzählt, die beide auf Grund von unterschiedlichen partnerschaftlichen Problemen Paris verlassen und über Ostern die Museumsinsel in Berlin besuchen, wo sie sich begegnen, so evoziert der Text auf einer zweiten Ebene den vielstimmigen Chor der Statuen auf der Museumsinsel, die ihre eigene Existenz reflektieren und zugleich das Paar beobachten. Die Menschen betrachten die Kunstwerke im Museum, die aber ihrerseits auch die französischen Touristen im Blick haben und ihr Verhalten kommentieren. Bleiben die Statuen im öffentlichen Raum gewöhnlich am Horizont der Wahrnehmung, so werden sie hier zum Thema gemacht und behaupten hartnäckig ihre Präsenz im Text. Parallel zu der Geschichte des Paares auf der Museumsinsel in Berlin wird die Geschichte der zurückgebliebenen Partner in Paris erzählt. Auch hier vermischt sich der Diskurs der Protagonisten mit dem Chor der Statuen auf den Plätzen und in den Parks von Paris, die das Geschehen kommentieren. Zwischen den Statuen in Frankreich und Deutschland gibt es scheinbar keine Differenz, das Sinnsystem des Museums suggeriert ein zeitloses Terrain vague. Die Statuen teilen das gleiche, über nationale Grenzen hinausweisende Schicksal. Ja, sie erscheinen im Text als stumme Zeugen, oftmals Opfer von Transferprozessen und Zerstörung. Cécile Wajsbrot begabt die sprechenden, das Geschehen kommentierenden und reflektierenden Statuen mit einem absoluten Gedächtnis. Sie haben Teil an einem gemeinsamen antiken europäischen Erbe, doch ihre Erinnerungen unterscheiden sich vom Zeitpunkt ihres Transfers nach Berlin oder Paris maßgeblich, ja sie dienen als Medium, um die deutsch-französische Geschichte in verfremdender Perspektive zu inszenieren. So erinnern sich die Statuen auf der Museumsinsel an das Projekt des Museumskomplexes als Folge der Rückführung der von Napoleon geraubten Kunstschätze, sie wurden Zeugen der Bücherverbrennungen 1933 und der Gräueltaten im Dritten Reich, sie haben die Bombardierung Berlins erlebt, die Zeit der Mauer mit der Aufteilung der Kunstwerke und die Rückführung aller Kunstschätze in die nunmehr restaurierten Museen auf der Museumsinsel nach der Wende.

Viele moderne Kunstwerke in Berlin werden beschrieben, die an das Schicksal der jüdischen Bevölkerung erinnern, wie die 1988 enstandene und 1996 auf dem Koppenplatz aufgestellte Installation von Karl Biederman Der verlassene Raum in Erinnerung an die Reichskristallnacht: ein überdimensionaler Tisch und zwei Stühle, von denen einer umgekippt ist, in einem Park.

Die Statuen in Paris erinnern sich hingegen an Cathérine de Medicis Projekt der Tuilerien, an die blutigen Wirren der französischen Revolution, an die Kämpfe auf den Straßen von Paris im Zweiten Weltkrieg und die Evakuierung der Gemälde des Louvre in das Schloß Chambord, an die deutsche Besatzungszeit, die Ansammlung der Werke der sogenannten entarteten Kunst im Jeu de Paume und an die Verbrennung vieler dieser Kunstwerke im Garten der Tuilerien.

Die Statuen scheinen die kollektive Erinnerung zu garantieren, wo diese verloren zu gehen droht. Sie überdauern nicht nur die Zeit, sondern sie reflektieren und überwinden auch nationale Grenzen. Dies wird am Beispiel eines Bronzereliefs deutlich, das sich heute in der deutschen Botschaft in Paris befindet: Die Inschrift des Reliefs von Bernhard Heiliger, Panta Rhei, wird zum Inbegriff für die verfließende Zeit, der die Statuen Einhalt gebieten, sie und ihre Gipsabdrücke bilden im ‚no man’s land’ von Zeit und Raum einen höchst eigenwilligen Stadtdiskurs, der eine Erinnerung wach hält, die sich dem Leser eindringlich vermittelt.
Die deutsche Botschafterin in Paris, Susanne Wasum-Rainer, wurde durch den Roman von Cecile Wajsbrot auf das Bildnis Heiligers im Eingangsbereich der Botschaft aufmerksam und hat Cecile Wajsbrot daraufhin eingeladen.

Gehen die Worte von Menschen und Statuen auf der Ebene des Textes immer wieder in einander über, so wird diese Verwischung der Grenzen genutzt, um das menschliche Schicksal hinter der Geschichte der Statuen in den Vordergrund zu rücken. So berichten die Statuen in Paris scheinbar neutral von der Rettung vieler Kunstwerke durch eine Gruppe von Widerstandskämpfern, die den folgenden Zug mit deportierten Menschen jedoch nicht aufhalten: „Ihr nennt ihn den Zug von Aulnay, weil er am Bahnhof von Aulnay von einer Gruppe von Widerstandskämpfern angehalten wurde. Alle Gemälde, die er enthielt wurden zurückerobert. Picasso, Braque, Bonnard, – der letzte Transport von Deportierten – das ist das Wort, das ihr verwendet – fuhr nach dem Zug mit den Kunstwerken ab. Niemand versuchte ihn aufzuhalten.“ Die Statuen, die sich an dieser Stelle explizit vom Diskurs der Menschen distanzieren, werden bei Cécile Wajsbrot auch zu Projektionsfiguren für das jüdische Schicksal. Ihr Roman übernimmt gleichsam die Aufgabe des Rufers aus dem Prolog, der in seinem stummen Schrei die Macht des Worts verkörpert.

Als sensible und aufmerksame Leserin von Zeichen öffnet Cecile Wajsbrot in einer eindringlichen und poetischen Sprache dem Leser und Flaneur von heute die Augen für die vielfach überschriebenen Spuren der Vergangenheit in Paris und in Berlin. Wenn die Statuen als Zeichen der Vergangenheit lebendig werden, öffnet sich der Bick auf eine deutsch-französische Konfiguration, deren Spuren in den Romanen Cecile Wajsbrots an die Oberfläche unserer Gegenwart dringen.