Prof. Werner Spies – Laudatio auf Tomi Ungerer
Tomi Ungerer mag diese Welt, er schmust jedoch nicht mit ihr. Kein Kuß für Mutter, eines seiner persönlichsten und traurigsten Bücher gibt mit einer „Geschichte über zu viel oder zu wenig Liebe“ Auskunft darüber. Es unterstreicht, wie stark alles in den Bildern und Texten mit der ordnungsgemäßen Dosierung von Scheu und Zuneigung zu tun hat. Der Jungkater Toby Tatze, der sich in dem Buch in ödipaler Verwirrung von der possessiven Liebe der Mutter frei zu machen versucht, offeriert den Blick auf das Selbstportrait eines Zerrissenen. Denn Tomi Ungerer ist zunächst einmal ein Zerrissener, der mit existentieller Qual und Trauer die Unmöglichkeit des Elsässers erlebte, zwischen zwei Sprachen und Kulturen zu leben. Die Gedanken sind frei. Meine Kindheit im Elsaß, Propaganda – Sammeln gegen das Vergessen und Heute hier, morgen fort zeugen von den ständigen Verschiebungen, für die der Zwölfjährige in einem Schulheft im l. Halbjahr 1943 ein bitteres Wort gefunden hat: „Ich bin und heiße Hans Ungerer. Ich werde der Wanderer sein.“ Einmal wurde ihm die Sprache von den Deutschen, dann von den Franzosen weggerissen. Und der Mann, der an beiden Sprachen und Kulturen hängt, der ein Entweder-Oder nicht ausstehen kann, hat den Verlust stets mit schonungslosen Worten beschrieben. Doch diese Erfahrung, die er, wie er unaufhörlich wiederholt, auf äußerst schmerzliche Weise erlebte, machte aus ihm einen unverzichtbaren Brückenbauer zwischen Deutschland und Frankreich und darüber hinaus zu einem überzeugten Europäer. Von früh an rief ihn die doppelte, von der Geschichte gespaltene Herkunft dazu auf, sich auf sprachliche Knacknüsse zu stürzen. Die Balance, die er zwischen den Mentalitäten, zwischen Französisch, Elsässisch, Deutsch und später auch Englisch zu erreichen vermochte, führte zu einer großen sprachschöpferischen Freiheit. Bei seinen Sprachspielen bedient er sich aus einem reichen Reservoir, in dem sich Übereinstimmung und Differenz mischen. Tomi Ungerer legt die Finger in die Wunde. Er weiß, dass Verschweigen und Verdrängen nur zu neuen Konflikten führen müssen. Er arbeitet dabei mit beiden Händen, mit der Sprache und mit der Zeichnung. Beide gehören für ihn untrennbar zusammen. Aus diesem Grunde greift er mit Vorliebe zum Buch. Mehr als hundertvierzig Titel hat er bis heute vorgelegt. Er selbst beschreibt diese siamesische Verbindung von Text und Bild mit folgenden Worten: „Ich zeichne, was ich schreibe. Ich schreibe, was ich zeichne. Ich bin ein Aufzeichner.“ Tomi Ungerer, das Weltgenie des Kinderbuches, der Darstellung eines märchenhaften, bedrohten Kosmos, der so einzigartige und unverwüstliche Gestalten geschaffen hat, wie diejenigen, die in der Familie Mellops, in Die drei Räuber oder Zeraldas Riese auftreten, steht mit dem Rücken ständig an den Pforten des Infernos. Er scheint von dieser Vorstellung des Nächtlichen und Gefährlichen besessen. Titelt er seine jüngste Publikation nicht Die Hölle ist das Paradies des Teufels? Von hier aus wirft er einen Blick auf das Verruchte und Ausgegrenzte. Bei welchem Zeichner und Illustrator treffen wir sonst auf derartige Abgründe? In den Zeichnungen, die mit einer rabiaten provokanten Genauigkeit dem Lüsternen nachsteigen, wird dies deutlich. Das unerhörte Bekenntnisbuch Schutzengel der Hölle, das auf eine Reportage zurückgeht, die er 1986 bei den Dominas in der Herbertstraße in Hamburg machte, die sinistre Endzeitstimmung in Slow Agony stehen neben Allumette, Flix oder Das Biest des Monsieur Racine. Wie soll man einen Künstler, der sich mit solch unbezwingbarer Gewalt und Freiheit auszudrücken vermag, charakterisieren? Von der Arbeitsweise her, vom Pensum, das er sich jeden Tag auferlegt, ist er richtiggehend ein „Triebzeichner“. Denn etwas Gefährliches, ein Unterton von „Triebtäter“ schwingt in dem obsessionellen Griff zu Stift und Farbe immer mit. Tomi Ungerer ist besessen von seinem Auftrag, Konventionen und Nettigkeiten durcheinander zu wirbeln. Die Unersättlichkeit, die sich in einer unübersehbaren Anzahl von Arbeiten niederschlägt – man hat von dreißig- bis vierzigtausend Zeichnungen auszugehen – lässt, auch wenn dieser Vergleich paradox klingen mag, am ehesten an Picasso denken. Auch bei dem Spanier gab es kein Anhalten. Auch bei ihm verbarg sich hinter dem Furor des Arbeiters die ständige Suche nach Widerspruch und Abwechslung. Zum Glück, meinte Picasso einmal, sei er Künstler geworden, sonst hätte er für nichts garantieren können. Auch Tomi Ungerer ist ein Unzufriedener und Getriebener. Er stellt alles in Frage. In einem Gespräch mit der der Wochenzeitung Die Zeit meinte er: “Wenn ein Buch fertig ist, habe ich gleich einen Ekel – es ist unmöglich.“ Und er fügte den außerordentlichen Satz hinzu: „Die Hoffnungslosigkeit ist für mich die achte Muse. Je hoffnungsloser, desto mehr Inspiration findet der Künstler, weil er dann kämpfen muss.“ Tomi Ungerer kann in vielen Blättern zärtlich, innig, heimatlos oder unglücklich sein, aber in anderen zeigt er die Zähne. Mit gnadenlosem Strich umzäunt er ein Gesicht, ein Körperteil, einen Charakter und trennt sie von den anderen ab. Er versetzt das Detail in eine tabulose Einsamkeit. In den Blättern, die in dem Band Babylon zusammengefasst wurden, steigert sich die Rasanz der Imagination zu einem Gemisch apokalyptischer Figuren. Er zeichnet gleichsam mit der Peitsche. Im schönsten Wiesengrunde, Frisch frosch fröhlich frei und viele andere Blätter fallen aus der Pfefferbüchse eines böse lächelnden Menschenfreunds. In Kamasutra der Frösche, in For Adults only oder in seinem ungeheuren Fornicon wird der Zeichner zu einem Ingenieur der Lust, der unaufhörlich neue Erfindungen und Kollektionen aus Fleisch und Maschinen anbietet. In diesem Umkreis begegnen wir neben einer Exaltation des Kruden unvergesslichen Kunstfiguren, die Tomi Ungerer mit einer Mischung aus Pedanterie und umwerfender physischer Komik ausstattet. Oft hat man den Eindruck, er wolle alles zerreißen und in Frage stellen. Dies spiegelt sich nicht zuletzt im Stil wieder. Es gibt keinen Einheitsstil. Seine grafischen Techniken umfassen die ganze Palette des Umgangs mit Papier. In den Collagen kombiniert der Künstler Fundstücke aus Zeitschriften, Details von Fotografien, erweitert sie, ergänzt sie mit dem eigenen Kommentar. Nehmen wir nur die fabelhaften Mischungen, die bereits Ende der 1950er-Jahre entstehen. Die Publikation Tomi Ungerers Weltschmerz fasst sie zusammen. Sie erscheinen als Produkte eines genialen Hineinsehens. Mit einem Blick erkennt der Künstler die Doppeldeutigkeit, die Unsicherheit einer Form, eines Inhaltes. Die farbige Abbildung eines gebratenen Hühnerschlegels kann durch eine leichte Veränderung einer alten, herausgeputzten Dame nicht nur eine Jacke, sondern einen ungemütlichen Charakter anbieten. Mit unwiderleglicher Logik werden aus Gebissen Kühler eines Autos, aus Sesseln Köpfe, aus Reizwäsche schnäbelnde Vögel. Was sich hier abspielt, erinnert an das paranoia-kritische Sehen, das der Surrealismus herangezogen hat. In den frühen Collagen von Max Ernst kündet sich diese Möglichkeit an, Dinge und Inhalte auf den Kopf zu stellen, aus Schuhen Figuren und Gesichter zu machen. Der Bezug zur Jetztzeit, der Kommentar der Aktualität sind unübersehbar. Die Inspiration geht von Bestehendem aus, arbeitet mit der abstrusen Verwendung der Dinge. Das Paradox macht die Welt erst sichtbar, könnte man als Formel für diese Verdrehungen anbieten. Und der Surrealismus, der das Logische in Frage stellt, gehört zu den wenigen Gewissheiten, die der Skeptiker Ungerer akzeptiert. Seine Skulpturen, häufig Skulpturen des Minimums, führen dies vor. Denn zumeist genügt ein kleiner Eingriff, um aus den Motiven, die dem Künstler in die Hände fallen, den Nutzwert zu vertreiben. Er liebt es, in Orte einzudringen, sie richtiggehend zu besetzen. Von der aufregendsten Auseinandersetzung mit einer Topografie, die den Künstler existentiell bewegte, berichtet das Buch Warteraum. Es entstand 1985 und trägt den Untertitel Wiedersehen mit dem Zauberberg. Das Hotel Schatzalp in Davos, einer der Schauplätze, an denen Thomas Mann seinen Roman angesiedelt hat, erfährt in den Zeichnungen Tomi Ungerers eine beklemmende Materialisierung. Der Titel „Warteraum“ , in dem Warteraum des Todes ebenso mitklingt wie die Evokation eines endlosen und zwecklosen Wartens auf Godot, macht aus diesem Carnet ein emotionales Logbuch des Künstlers. Er selbst meinte dazu, es gäbe nur ein einziges unter seinen Büchern, das ihm gefalle und dies sei Warteraum. Mit Präzision schildert er – wie die eiskalten Zeichner der Neuen Sachlichkeit, wie Karl Hubbuch oder Carl Grossberg - Orte und Gerätschaften, denen wir im Roman begegnen. Medizinische, hygienische Requisiten vergiften die Architektur. Tomi Ungerer stöberte sie im Keller des Hotels auf. Hier fand er Kupferpfannen, Wärmflaschen, Bidets, Pneumothoraxe, chirurgisches Besteck und auch den berüchtigten „Blauen Heinrich“, einen Taschenspucknapf, der die an Tuberkulose Erkrankten ständig begleitete. Es sind Zeichnungen, in denen der kühle, sanitäre Schnee des Papiers wie eine Bedrohung eingesetzt wird. Der Künstler begründet diese Faszination durch Weiß mit dem Tod, mit der Höhenlage. Er spricht von einer „erhabenen Welt, wo der Tod weiß hängen bleibt, einer Welt der Wirklichkeitsflucht“. Dies habe er zum Ausdruck bringen wollen: „Ich brachte dieses Gefühl von Schnee kontra Amnesie in meine Zeichnungen ein, ließ große Flächen weiß.“
Als Grafiker, Autor und Illustrator von Büchern hat sich Tomi Ungerer Weltruhm erworben. Seine Zeichnungen und Illustrationen gehören zum unumgänglichen kollektiven Besitz unserer Zeit. Er begann seine Karriere als aufmüpfiger Zeichner und Schriftsteller in den USA. Schnell dringen aus seinem Atelier in der 42. Straße ätzende Blätter in die großen Publikationen ein. Es sind Arbeiten, die sich einmischen, die zu Konkretem Farbe bekennen. Zwar notierte Tomi Ungerer 1987 in Fundsachen etwas nostalgisch und skeptisch: „Heute die Neuen Wilden, morgen die Alten Milden“. Doch die Cartoons, die in Esquire, Life, Harper’s Bazaar, The Village Voice, The New York Times oder The New Yorker erschienen, haben bis heute ihren Biss und ihre Aktualität behalten. In den USA stießen die satirischen und erotischen Zeichnungen sofort auf Kritik. Dafür sorgten seine Souveränität und Freiheit, die sich gegen die Pflicht zur political correctness ebenso zur Wehr setzten wie gegen jede Unterdrückung und Dummheit. 1967 prangerte er in zahlreichen Plakaten und Flugblättern den Krieg in Vietnam an. In diesem Umkreis entstehen berühmte Arbeiten. Denken wir nur an die Darstellung eines toten amerikanischen Soldaten, die der Künstler mit der Frage What now? begleitet.
Wirkungsvoll sind auch die zum Logo vereinfachten Angriffe gegen alle Spielarten von Rassismus. Black Power, White Power bleibt aktuelles Statement zu einer reversiblen Gemeinheit und Diskriminierung. Nicht nur diese Blätter beleidigten die Öffentlichkeit. Auch Publikationen wie Tomi Ungerers Geheimes Skizzenbuch und The Party schockierten in New York. Der Zeichner wurde in seiner amerikanischen Zeit verdächtigt, verhaftet, verhört. 1971 verließ er nach vierzehn Jahren New York und zog ins kanadische Neuschottland. Dort blieb er bis 1975. Dann kehrte er nach Europa zurück. Seitdem lebt er abwechselnd auf einer Farm in der Nähe der Stadt Cork im Südwesten Irlands und in seiner definitiven Heimatstadt Straßburg. Man kann keine zwei Schritte mit Tomi Ungerer durch seine Heimatstadt tun, ohne dass er sich zu dem, was gewohnheitsmäßig nicht gesehen wird, so erstaunt äußert, als begegne er allem erstmals, mit frischen Augen. „Schau mal“, meint er, als wir an einer verstrubbelten Trauerweide vorbeikommen, „die geht offensichtlich auch nicht gerne zum Friseur“. Oder greifen wir nach einer seiner Definitionen, die sich für immer einprägen: „Gänse sind so weiß, dass es scheint, als sickere Waschmittel aus ihrem Innern. Ich würde sie die Nonnen der Bauernhöfe nennen, wenn sie während des Geschlechtsverkehrs nicht so laut wären.“ Und sofort setzt das unendliche Spiel mit Assoziationen ein, das der Zeichner und Dichter auf unersättliche Weise betreibt. Es ist nicht nur von der Trauerweide, vom Baum die Rede, sondern wir schlüpfen hinter seine Rinde, wir begegnen einem Kosmos, in dem jedes Ding, jede Pflanze, jedes Tier anthropomorphe Züge annimmt. Man denkt an ein Wort von Novalis, das den skeptischen Spätromantiker Tomi Ungerer auf wunderbare Weise zu charakterisieren vermag: „Jedes Willkürliche, Zufällige, Individuelle kann unser Weltorgan werden. Ein Gesicht, ein Stern, eine Gegend, ein alter Baum usw. kann Epoche in unserm Innern machen.“ Alles belebt sich unter einer solch neugierigen Umarmung der Welt.