2023

Prof. Dr. Patricia Oster-Stierle - Laudatio auf das Festival Primeurs

Primeur ist ein junger, französischer Wein, der nach einer kurzen Gärung direkt in Flaschen abgefüllt wird, um zeitig auf den Markt zu kommen, allerdings darf er nicht vor dem 15. November eines Jahres ausgegeben werden. Der Wein wird als „frisch und spritzig“ beworben, Weinkenner bemängeln jedoch seine Qualität. Qualität kann man dem Festival Primeurs nicht absprechen. Im Gegenteil. Es gießt, um im Bild zu bleiben, junge französische und frankophone Gegenwartsdramatik nach einem Gärungsprozess im Übersetzeratelier in Werkstattinszenierungen, die seit 16 Jahren immer im November zur Aufführung kommen. Es soll, wie die Veranstalter es formuliert haben, „Vorgeschmack auf einen möglicherweise großen Jahrgang der Theaterliteratur geben“. Dem Festival geht eine ‚intensive Weinlese‘ voraus. Denn die Veranstalter, das Saarländische Staatstheater – ich begrüße seinen Chefdramaturgen Horst Busch, Le Carreau, Scène Nationale de Forbach et de l’Est mosellan, je salue son dircteur Grégory Cauvin, das Saarbrücker Institut d’Etudes Françaises, ich begrüße seine Leiterin Prof. Dr. Anne-Sophie Donnarieix und der Saarländische Rundfunk, hier begrüße ich Anette Kührmeyer –, sichten zunächst zahlreiche Stücke zeitgenössischer frankophoner Autoren. Schon diese erste ‚Primeur-Lese‘ ist eine wichtige interkulturelle Zusammenarbeit, weil deutsche und französische Theaterpraktiker, Journalisten und Literaturwissenschaftler sich in ein mehrmonatiges Leseabenteuer stürzen, um jedes Jahr unter bis zu hundert zeitgenössischen Stücken eine Auswahl von sechs Werken zu treffen, die zur Aufführung gelangen sollen. Ich möchte an dieser Stelle einige Namen der höchst engagierten ‚Erntehelfer‘ nennen: Anette Kührmeyer, die Initiatorin des Festivals, Bettina Schuster-Gäb, die auch seit den Anfängen dabei ist, Stéphanie Carrier-Gailman, Grégory Cauvin, Laurence Lang, Valérie Deshoulières, Anne-Sophie Donnarieix, Corinna Pop. Dabei geht es darum, Stücke auszuwählen, die auf hohem sprachlichen Niveau den Nerv der Zeit in Frankreich und in zunehmendem Maße auch in frankophonen Ländern treffen und deren Transfer an die deutschen Theater deshalb einen wichtigen Beitrag zur deutsch-französischen und interkulturellen Verständigung leisten. Die unterschiedlichen Theatertraditionen und thematischen Schwerpunkte der beiden Länder treffen hier aufeinander. Hat man gemeinsam in oftmals langen Diskussionen eine Auswahl getroffen, werden geeignete Übersetzer für die Selektion der jeweiligen Ausgabe von Primeurs gesucht. Es folgt die Überlegung, welches der Stücke sich als Hörspiel eignet, das vom Saarländischen Rundfunk produziert, unmittelbar vor den Augen der Zuschauer in einer live-Aufnahme entstehen soll. Die Hörspiele haben den Vorteil, dass sie, vom SR produziert, von anderen Sendern übernommen und inzwischen auch in digitalen Formaten einer großen Hörerschaft zugänglich gemacht werden können. Nach der Übersetzung der Stücke werden Schauspieler aus dem Ensemble des Saarländischen Staatstheaters, die großartige Christiane Motter ist heute unter uns, für jedes der Stücke ausgewählt. Mit geringen Mitteln, einem angedeuteten Bühnenbild – kaum kann man von Kostümen sprechen – , wenigen Requisiten und dem Text noch nicht im Kopf – sondern für alle sichtbar in der Hand – zeigen sie, wie die Stücke auf der Bühne zum Leben erweckt werden können. Eine ungewohnte, eindringliche und intensive, ja spannende Erfahrung für die Zuschauer und eine große Herausforderung für die Schauspieler. Es gibt nur wenige Proben, viel wird improvisiert und wirkt deshalb frisch und spritzig, wie man es dem Wein zuschreibt. Der Primeurs-Genuss erzeugt hochprozentige magische Momente auf dem Theater.
Bei den Inszenierungen werden auch deutsche und französische Theatertraditionen vermischt, indem man französische Regisseure mit dem Ensemble des Staatstheaters arbeiten lässt oder ein Hörspiel des SR von einer Redakteurin von France Culture realisiert wird.
Neben dem Publikum, das einen eigenen Preis für sein Lieblingsstück ausloben kann, entscheidet eine Fachjury am Ende über das Siegerstück und über die beste Übersetzung. So kommt auch den sonst im Unsichtbaren bleibenden Übersetzern die ihnen gebührende Aufmerksamkeit zu.

Das Festival wurde auf der Grenze zwischen Frankreich und Deutschland geboren, zunächst zeigte es die französischen Stücke in deutscher Sprache auf deutschen Bühnen. Inzwischen hat sich sein Charakter verändert und den Bedürfnissen der Zuschauer aus dem interkulturellen Grenzraum angepasst. Es findet grenzüberschreitend an verschiedenen Spielstätten des Saarländischen Staatstheaters und im Theater Le Carreau in Forbach statt. In einer Vor-premiere verschränken sich auch die Blicke, denn es werden Stücke deutscher Autoren, wie Falk Richters „Projekt Liebe-Wirtschaft“ oder Rebekka Kricheldorfs Stück Robert Redfords Hände in französischer Übersetzung in Le Carreau inszeniert. Auch ein typisch französisches Genre wie das „seul-en-scène“ wurde in den deutschen Kontext überführt. Das Festival hat eine ganze Reihe von heute sehr renommierten Autoren erstmals in Deutschland gezeigt. So wurde Joël Pommerat schon 2007 mit seinem Stück Les Marchands eingeladen. Wajdi Mouawad, der 2017 mit einem beklemmenden literarisch-künstlerischen Beitrag die Eröffnungszeremonie der Frankfurter Buchmesse unvergesslich gemacht hat, war bereits 2008 mit Littoral bei Primeurs zu Gast. In demselben Jahr wurde auch das Stück Les Serpents von Marie NDiaye in deutscher Übersetzung von Claudia Kalscheuer gezeigt, aus dem wir gerade einen Auszug aus der Hörspielfassung verfolgen konnten. Sie ist auch dieses Jahr wieder mit „Un pas de chat sauvage“ im Festival vertreten.

Seit 2021 wird das gesamte Festivalprogramm durch Übertitel und Verdolmetschung zweisprachig präsentiert. Denn neben dem deutschen, vorwiegend jungen Publikum, das sich für französische Gegenwartsdramatik interessiert, aber der Übersetzung ins Deutsche bedarf, kamen im Laufe der Jahre immer mehr Zuschauer aus dem nahen Frankreich, die ihrerseits des Deutschen nicht mächtig sind, sich aber wünschten, die Stücke in der Originalsprache kennen zu lernen. Begleitet wird das Festival vom grenzüberschreitenden kulturellen Austausch zwischen frankophonen und deutschen Künstlern und Publikumsgruppen.

Die stets gegenwartsbezogenen Stücke verlangen geradezu nach einem anschließenden débat. Fragen der Übersetzung werden ebenfalls erörtert. Ja das Publikum konnte 2012 verfolgen, wie ein professioneller Übersetzer arbeitet und wurde eingeladen, sich selbst an der Suche nach den besten Formulierungen zu beteiligen und Rückfragen an den Autor zu stellen. Frank Weigand, der viele Stücke für das Festival kongenial übersetzte und auch heute hier anwesend ist, hat sich diesem Experiment gestellt. Das Festival erfand sich immer wieder neu. Seit diesem Jahr wechseln sich ein Wettbewerbsjahr mit einem Produktionsjahr, „Primeurs Pur“ ab, in dem Stücke in das reguläre Repertoire aufgenommen werden. Seit 2021 gibt es ein digitales Angebot zu aktuellen Fragen der Theater-Übersetzung, das sich als so innovativ erwies, dass es zu der Neugründung des Online-Archivs und -Magazins PLATEFORME führte, das seither als Diskussions- und Reflexionsmedium für die Bereiche Übersetzung – Dramaturgie –szenische Praxis besteht und auch von der französischen Botschaft unterstützt wird. Beiträge in Form von Interviews, Porträts, Übersetzungskritiken und Hintergrundrecherchen rücken die künstlerische Arbeit hinter dem übersetzten Text ins Blickfeld und geben Einblick in aktuelle Debatten. Die für das Festival Primeur übersetzten Texte werden hier – auch wenn sie nicht von Theaterverlagen vertreten sind – in einem Archiv für Forschungszwecke und die Theaterpraxis bewahrt. Ein Schatz französischer Gegenwartsdramatik wird auf diese Weise den deutschen Theaterregisseuren und einem deutschen Publikum zugänglich gemacht. Über 100 Theaterstücke wurden seit 2007 von Primeurs erstmalig in deutscher Sprache in Werkstattinszenierungen, Lesungsformaten und Live-Hörspielen präsentiert, um weiter den Weg in die Verlagskataloge, Rundfunk- und Bühnenprogramme zu finden.

In einem der informativ und aufwendig gestalteten Programmhefte heißt es an das potentielle Publikum gerichtet: „Sie sind sich nicht sicher? „Frankophone Gegenwartsdramatik“ klingt irgendwie anstrengend? Lassen Sie sich überraschen.“

Und wir lassen uns gern überraschen von einem Panorama junger französischer Dramatiker, die die gesellschaftliche Wirklichkeit aus den unterschiedlichsten Lebensperspektiven in einer Vielzahl literarischer Ausdrucksformen wahrnehmen. Sie erzählen unsere Gegenwart und eröffnen uns eine französische und frankophone Perspektive.

So reflektiert Marine Bachelot Ngyuen in „Der Sohn“ das Wiedererstarken des Katholizismus und Nationalismus in Frankreich. Die Unruhen französischer Vorstädte wurde von einem Autorenkollektiv Hamelin, Levey, Malone und Simonot in dem Stück L’Extraordinaire tranquillité des choses beleuchtet. Die Problematik der immer unpersönlicheren digitalen (Arbeits-)welt und die damit verbundene Entfremdung stellt Alex Lorette in seinem Stück : „Dream Job(s) “ vor Augen. Alban Lefranc inszeniert in seinem Stück „Steve Jobs“ ein ikonoklastisches Königsdrama um den enigmatischen Herrscher im Apple-Universum, Veganer, Buddhist, Milliardär mit 10.000 Angestellten, der sich dem Tod stellen muss. Eine märchenhafte Apokalypse wird in dem Stück Wenn die Welle kommt von Alice Zeniter beschworen, in dem der Meeresspiegelanstieg eine französische Insel bedroht.

Viele Texte führen in ein absurdes Universum. So zeigt der Schweizer Autor René Zahnd, in einem wunderbaren an Beckett und Genette erinnernden Text, die beiden Leibwächter eines afrikanischen Diktators, die vergeblich auf ihn warten, weil er inzwischen gestürzt wurde – und die nun in der Schweizer Luxusvilla als Relikte eines untergegangenen Systems ein Spiel von Macht und Unterwerfung spielen. Fabrice Melquiot setzt sich in Youri mit den Illusionen der Moderne auseinander, indem sich der Kinderwunsch eines Paares plötzlich erfüllt: ein aus dem Nichts aufgetauchter Junge sitzt ihrer Wohnzimmercouch, er ist aus dem Nichts aufgetaucht, oder vielmehr – er kommt aus der Elektro-Hauswarenabteilung des nahen Supermarkts. Aus seiner surrealen Erscheinung spricht die burleske Kraft des Theaters. Auch das von den Metamorphosen Ovids inspirierte Stück von Sébastien David Une fille en or, Goldmädchen, das im letzten Jahr gezeigt wurde, ist eine Gradwanderung zwischen Komik und Tragik der modernen Alltagswelt, die durch Überdehnung und Verzerrung sichtbar gemacht wird. Eine Finanzanalystin stellt plötzlich fest, dass ihre Berührungen alles in Gold verwandeln – sogar ihre Sekretärin. Eine junge Dramatikerin findet sich zu ihrer Verzweiflung mit einer sich beständig vermehrenden Zahl von Doppelgängerinnen ihrer selbst konfrontiert. Eine Tote gräbt sich aus der Erde und wird schon bald zu einer Trendsetterin, von der die Medien mit Begeisterung berichten. Beim Kleiderkauf gerät eine Mutter so tief ins Internet, dass sie schließlich selbst zum Pixel wird und in den unendlichen Weiten vergeblich den Weg zurück in die echte Welt sucht.

Das Stück Septembres von Philippe Malone, das Primeurs 2012 einem deutschen Publikum erschloss, ist heute wieder von bestürzender Aktualität. Der Titel spielt auf den sogenannten Schwarzen September 1970 und den 11. September 2001 an, ohne die Konflikte zu verharmlosen oder zu moralisieren. Ein namenloses Kind an einem namenlosen Ort steigt über seine scheinbar schlafenden, doch, wie sich später herausstellt, toten Brüder und verlässt mit einem Ball das Haus. Es läuft durch die Ruinen einer vom Krieg zerstörten Stadt und setzt sich auf einen Hügel, der aus Trümmern errichtete wurde. Unter einem Feigenbaum sitzend betrachtet es die aufgehende Sonne. Die Idylle wird durch den Lärm angreifender Flugzeuge zerstört, die gleichzeitig als magisches Schauspiel auf der anderen Seite der Welt zwischen Werbeblöcken als irreale Kriegsberichterstattung über den Bildschirm flimmern.

Das Stück, aus dem wir heute in der Lesung von Christiane Motter vom Saarländischen Staatstheater, die immer im Festival Primeurs auftritt, einen Auszug sehen, Les Barbelés, Stacheldraht, stammt von der kanadischen Autorin Annick Lefebvre und wurde von Sonja Finck übersetzt. Es ist ein Monolog, der eine genderfluide Figur in ihrem Kampf mit einem absurden Stück Stacheldraht zeigt, das in ihr heranwächst. In der kurzen Zeit, die ihr zum Leben bleibt, lässt sie den alltäglich erfahrenen und sie immer mehr einengenden Erwartungsdruck im Privaten und Beruflichen Revue passieren, bis der Draht ihr den Mund verschließt. Ein Thema das in seiner Intensivität zu einer unmittelbaren Erfahrung des Publikums wird.

Der kulturelle Austausch zwischen Deutschland und Frankreich, raison d’être der Académie de Berlin, wird durch das Festival seit mehr als 15 Jahren in höchst innovativer Form gefördert. Die Académie de Berlin freut sich, die engagierten Mundschenke von Primeurs mit dem Preis der Académie de Berlin auszuzeichnen. Félicitations!

Patricia Oster-Stierle