Dr. Nike Wagner – Laudatio auf Stéphane Hessel
Nike Wagner
Stéphane Hessel - Die lehre vom überleben
„Il n´y a que du bon à dire de lui“ , es gibt nur Gutes über ihn zu sagen, meinte der französische Botschafter in Berlin, Maurice Gourdault-Montagne, von Stéphane Hessel. Er kennt ihn lange, nicht zuletzt aus eigener dienstlicher Erfahrung - als Hessel seinem diplomatischen Corps das Theaterspielen beibrachte, um dessen Teamgeist zu stärken. Andere – wie der „Canard enchainé“ - nannten ihn einen „homme debout“, und in unseren Gazetten wird er zumeist als „Vater der Empörten“, als „moralisches Gewissen seiner Nation“, aber auch als „Glückskind“ oder „glücklicher Sisyphus“ apostrophiert. Im Sommer 2011 hatte der 93jährige einen „denkwürdigen Auftritt“ im überfüllten Konzertsaal des Kunstfestes Weimar. „Ein greiser Herr von enormer geistiger Elastizität“, hieß es dazu in der „Süddeutschen Zeitung“, „forderte dazu auf, eine würdige Gesellschaft aufzubauen.“ Standing ovations.
Stéphane Hessel ist ein berühmter Mann. Die Journalisten belagern ihn, dringen gelegentlich bis zu den Abfalltonnen im Hof seines Pariser Hauses vor, um des alten Herrn, wenn er gerade - in weißem Hemd und Krawatte - seinen Müll entsorgt, habhaft zu werden. Er ist ein tatkräftiger Mann, vornehme alte Schule, aber keineswegs zimperlich. Er ist der Journalisten „neue Lichtgestalt“ seit jenem Oktober 2010, als sein schmales Pamphlet „Indignez-vous“ zum Millionen-Bestseller in Frankreich wurde, mit ähnlichem Verkaufserfolg in anderen europäischen Ländern, inzwischen in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
Auf wenigen Seiten wird hier eine Grundhaltung zu den politischen und gesellschaftlichen Verirrungen der Gegenwart dokumentiert und zur Empörung über einen Finanzkapitalismus aufgerufen, der die Werte der Zivilisation bedroht, ablesbar an der wachsenden und immer brutaler werdenden Kluft zwischen Arm und Reich. Aber es geht auch um die Beilegung der Konflikte im Nahen Osten, was ohne Dialog zwischen Christen und Muslimen nicht möglich ist. Mit dem gegenwärtigen Israel geht er hart ins Gericht. „Ich mag ein schlechter Jude sein, denn ich gehe nicht in die Synagoge“, so Hessel andernorts, „ich lasse mir aber von niemandem meine Kritik an der Politik Israels verbieten.“ Zugleich ist er Pazifist, plädiert für kompromißlose Gewaltlosigkeit.
Bald folgte seinem ersten Manifest ein zweites Bändchen, diesmal nicht in essayistischer, sondern in Interview-Form. „Engagez-vous!“ Darin engagiert er sich für die Ausgeschlossenen, die Obdachlosen und Eingewanderten, für Umweltpolitik und Entwicklungshilfe. Schon mit dem Titel weht ein Stück „existentialistischer“ Vergangenheit Frankreichs herüber: Sartre, den er 1939 in Paris kennengelernt hat, läßt grüßen, aber auch der Impetus des Londoner Widerstands de Gaulles ist spürbar, ein Mann, der im Leben Hessels eine große Rolle spielte. Sich empören und sich engagieren sind zwei Seiten einer Medaille. „Die schlimmste aller Haltungen ist die Indifferenz“, so Hessel. „Zu sagen: Ich kann für nichts, ich wurschtel mich durch. Wenn ihr euch so verhaltet, verliert ihr eine der essentiellen Eigenschaften, die den Menschen ausmachen: die Fähigkeit, sich zu empören, und das Engagement, das daraus folgt“.
Gute und aufrechte Menschen gibt es überall. Sie haben bei uns den schlechten Ruf der „Gutmenschen“. Auch Empörte gibt es genug, wie wir durch unsere streitbaren „Wutbürger“ wissen. Es gibt selbstverständlich auch viele Bestsellerautoren. Sogar das Alter Methusalems erreicht heute dank medizinischer Technik so mancher. Wo also liegt das besondere Verdienst des Stéphane Hessel, warum sieht die Académie de Berlin in ihm einen würdigen Kandidaten für ihren kostbaren Preis?
Zunächst: Nicht alle lieben Stéphane Hessel. Sein Engagement für die Palästinenser hat ihm eine Strafandrohung wegen „Aufrufs zum Rassenhaß“ eingebracht und auf Betreiben des Zentralrats der französischen Juden verweigerte ihm die École Normale Supérieure im Januar 2012 den Saal für einen Vortrag. Daß er sich einem Aufruf zum Boykott israelischer Waren anschloß, ist ihm verübelt worden. Vielfach wurden seine „Empörungs“-Broschüren auch aus politischer und literarischer Sicht verrissen.
Einerseits, heißt es gönnerhaft aus Frankreich: Wer würde ihn nicht mögen mit seinem entwaffnenden Lächeln, seinem ungeheuren Gedächtnis für Gedichte, seinen geschliffenen Manieren aus einer anderen Zeit, seiner Sanftheit? Andrerseits: die Broschüre, die heute seinen Weltruhm begründet, sei formal ein Machwerk, mit einer „faible plume“ geschrieben und banal. Man sei erstaunt über den Mangel an Inhalt, wo doch ein Aktionsprogramm vorliegen solle oder eine Moralphilosophie. Hessel wird als politisch naiv bzw. überholt eingestuft. Empörung sei ja schön und gut, aber wir bräuchten Reflexion. Die Emotion sei eine folgenlose, also billige Form von Auflehnung und in sich verwaschen. Was soll ein Aufruf zu „allgemeiner“ Empörung ohne präzise Zielformulierung, der alles in einen Topf wirft: die Empörung zugunsten der armen „Sans-Papiers“ und gegen den wildgewordenen Kapitalismus sind doch nicht mit gleichem Maß zu messen wie die Empörung gegen die Nationalsozialisten! In der Tat – Hessel scheint da nicht wählerisch. „Worüber man sich empört, ist beinahe egal“, sagt er in einem Interview mit Jakob Augstein. Man könne die Umwelt schützen oder Tiere, solang man die Grundwerte verfolge: die Ökologie oder den Kampf gegen Armut und Gewalt.
Immer wieder einmal wird ihm auch „Überzeugungs-Naivität“ und allzu simple, moralisierende Rhetorik angekreidet. In der Tat - es gibt so rührend einfache Sätze von Hessel wie: „Ich glaube an den Menschen.“ Oder auch: „Ich baue auf die Institutionen.“ Sätze, die man irgendwie nicht laut sagen kann. Zumindest fallen solche Vereinfachungen uns Deutschen schwer. „Es geht Ihnen ja ziemlich gut, den Deutschen“, gibt Hessel zu. „Aber schauen Sie, wie die Erde zerstört wird, die Wasservorräte privatisiert werden. Da muß man sich doch fragen: Was tue ich dagegen?“
Hessels Weltrettungsvorstellungen – durch Empörung und Engagement einerseits und die beharrliche Arbeit in internationalen Organisationen zugunsten einer zivilgesellschaftlichem „Weltregulierung“ andrerseits – scheinen vielleicht „unterkomplex“ angesichts einer an Komplexität und Undurchschaubarkeit schier erstickenden globalen Welt. Ist das das Geheimnis seines Erfolges? Daß einer mit klarer, einfacher Sprache spricht? Sicherlich wird sich dieser Sohn zweier schriftstellernder Eltern mit seinen Manifesten nicht den Nobelpreis für Literatur verdienen. Aber es geht um etwas anderes bei Stéphane Hessel, und in diesem „Anderen“, das der aufgeregte Journalismus vernachlässigt, liegt das Preis-Würdige dieses Mannes.
Wenn es so ist, daß die Académie de Berlin nach Kandidaten sucht, die eine kulturelle – oder auch politische - Mittlerrolle zwischen Frankreich und Deutschland spielen, die beide Länder gleichsam in sich aufgesogen haben, dann verkörpert Stéphane Hessel diese Forderung bis zum Wunderbaren, Wundersamen. Reale Verkörperung und symbolische Repräsentanz kommen in seiner Person zusammen, sein Fleisch und sein Blut und die Geschichte beider Länder.
In die Welt gesetzt von deutschen Eltern, die sich im Café du Dôme in Paris kennengelernt und 1913 in Berlin geheiratet haben, der Vater Autor und später Übersetzer großer französischer Schriftsteller (Balzac, Proust, Cohen, Green, Baudelaire), die Mutter Malerin und in den zwanziger Jahren Pariser Modekorrespondentin für die „Frankfurter Zeitung“. Deren amour fou mit einem smarten französischen Schriftsteller legt es nahe, daß ihr Sohn noch einen zweiten, einen geistigen Vater hatte. Diese „ménage à trois“ eines freien deutsch-französischen Liebesverhältnisses - später verewigt in Truffauts Film „Jules et Jim“ – spielte sich vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieg ab. Stéphane Hessel kommt 1917 in Berlin zur Welt, mitten im Krieg. 1924 zieht die Familie nach Paris – Stéphane ist sieben Jahre alt, ein „fröhlicher kleiner Berliner“, der nun die Grundschule von Fontenay-aux-Roses besucht und von allen Seiten seines Familiendreiecks in die Liebe zu Frankreich eingeführt wird. Der vor allem seine Mutter glücklich macht, indem er lernt, den Gedichten von Rilke und Hölderlin die Fabeln von Lafontaine und die Balladen von Villon hinzuzufügen. Die deutsche Sprache hatte „Vorrangstellung in den Schätzen meines Gedächtnisses“, wird er später zugeben. Kunststück: war sie doch die „Mutter“-Sprache, und seine wilde, schöne, unkonventionelle Mutter liebte er über alles – sie lehrte ihn auch das Überleben, bevor er wußte, daß er diese Lehre eines Tages würde brauchen können.
Das Paris der Zwischenkriegsjahre - 1934 bis 1939 – war der Schmelztiegel, aus dem Stéphane Hessel hervorgeht, geprägt von der „Explosion der Künste“, vom Ein- und Ausgehen Marcel Duchamps, Max Ernsts, Pablo Picassos und Le Corbusiers im elterlichen Haus. Guillaume Apollinaire ist der Dichter, den er aus der Gilde „der Aufbegehrenden“ am liebsten hat. Während seine Mutter nackt am Strand für Man Ray posierte, arbeitet sein Vater mit Walter Benjamin zusammen an der Übersetzung der „Recherche“ von Marcel Proust und ist wieder viel in Berlin, ist Autor und Lektor bei Rowohlt, bis er, weil jüdischer Abkunft, die Stadt 1938 endgültig verlassen muß.
1933: Hessel ist in London, School of Economics, viel Shakespeare – er taucht in seine dritte Lieblingssprache ein, das Englische. 1934, wieder Paris, Sciences Po. École normale supérieure und die Entscheidung für Frankreich. Mit zwanzig Jahren erhält er die französische Staatsbürgerschaft. Frankreich ist das Land, zu dem er sich „bekennt“, zu dessen historischem und kulturellem Erbe: zur Revolution von 1798 und der Erklärung der Menschenrechte, zu Intelligenz, Toleranz, Vernunft und einer analytischen, artikulierten, präzisen Sprache. Im hochpolitisierten Klima jener Zeit bewahrt Hessel ein Mißtrauen gegenüber Ideologien – gegen den Marxismus zum Beispiel, der mit der Front populaire als Alternative zum heraufziehenden Faschismus durchaus verführerisch war. Der Normalien denkt vom Humanen und Demokratischen her – zugegeben „naiv“-gradlinig in einer Zeit, in der sich die Ereignisse zuspitzen. Mobilmachung 1939. Lange glaubt er, daß die Koalition der großen Demokratien Großbritannien und Frankreich gegen den „Hampelmann“ von jenseits des Rheins nur einen kurzen Krieg erwarten ließe. Weit gefehlt: Durchbruch der Deutschen, Rückzug der Franzosen, Pétains Waffenstillstand - Hessel wacht auf, flieht nach England, zu den von de Gaulle kommandierten Forces françaises libres, er wird Flugnavigator und schließlich, weil zweisprachig, dem Bureau pour contre-espionage, de renseignement et d´action – de Gaulles Geheimdienst – zugeteilt und als Spion ausgebildet. Die schwierigen Aktionen zur Rückeroberung Frankreichs zu koordinieren, gehörte zu seinen Aufgaben; allzu viele Opfer gab es unter den Résistance-Agenten. Hessel ist tatendurstig, will nicht im sicheren London bleiben, läßt sich auf eine Mission nach Frankreich schicken - und in Paris passiert es: Ein Kamerad verrät ihn unter der Folter und er wird am 10. Juli 1944 von der Gestapo gefaßt, gefoltert, verhört.
Im Umfeld der Katastrophe entfaltet sich nun aber auch die Wirkungsmacht und das Wechselspiel einer deutsch-französischen Identität.
Ein erster Vorteil: „Ich fange an deutsch zu sprechen, was den, der mich verhört, aus dem Konzept bringt“, so Hessel. Ein zweiter Vorteil: Hessel ist literarisch-dadaistisch versiert und einfallsreich, er gesteht einiges, harmloses, und dichtet vieles andere hinzu. Die Dichtung, bisher Lebensschmuck und Anlaß stolzer Rezitierauftritte, erhält nun existentielle Bedeutung; sie hilft über die Zeit der Angst, über die Haftbedingungen und das Bewußtsein geringer Überlebenschancen hinweg.
Mit anderen Résistance-Kämpfern wird der Offizier Hessel nach Thüringen ins KZ Buchenwald verfrachtet, die Exekution erwartet sie. Durch einen ausgetüftelten, aber äußerst riskanten Plan des Identitätstauschs mit einem Typhustoten entgeht Hessel dem Strang. Er wird unter falschem Namen ins nächste Lager geschickt. In Rottleberode erleichtert ihm die Tatsache, daß er deutsch spricht, das Leben, er wird Buchführer, und als es gesundheitlich abwärts geht, kümmern sich zwei höhergestellte deutsche Deportierte - sogenannte Kapos - um ihn. „Die deutsche Sprache wird mir wieder vertraut“, schreibt Hessel in seiner Autobiographie, und: „ ich amüsiere die beiden, indem ich ihnen Geschichten erzähle“. So lange er deutsch redet, bleibt der Franzose Hessel am Leben. „Sie hören mir gern zu, wenn ich Gedichte von Goethe oder Hölderlin rezitiere. Wer sich im Lager aufs Erzählen versteht, kommt in den Genuß der allerhöchsten Protektion.“ Stéphane Hessel, eine andere Scheherazade...
Dann macht der Unbesonnene, zusammen mit einem Kollegen, einen Fluchtversuch, wird gleich wieder geschnappt und ins Lager Dora verladen, ein systematisches Vernichtungslager. Erneute Folterqualen, erneut hilft ihm die deutsche Sprache. Der vernehmende SS-Offizier teilt beide unter die „Ausbrecher“ ein, sie müssen nicht in die tödliche unterirdische Fabrik, wo die V1- und V2-Raketen gebaut werden, sondern ins Strafkommando. Unter Schlägen hebt Hessel Gräben aus, arbeitet im Straßenbau. Um zwei Scheiben Wurst zu bekommen, erklärt er sich zur widerlichsten Arbeit bereit: Kleider von den Leichen zu zerren, die auf Scheiterhaufen verbrannt werden müssen.
Schließlich Flammen am Himmel: Die Nachbarstadt Nordhausen wird von den Alliierten bombardiert. Was kündigen sie an? „Unser Ende oder unsere Freiheit“ - das ist die Frage im Lager – und Hessel gibt die erstaunliche Antwort darauf: „Für mich bestand kein Zweifel: ich war es gewohnt, ein Geretteter zu sein“. Er wird Recht behalten. Am 4. April wird das KZ evakuiert, er flieht erneut und diesmal hat er Glück. Herumirrend, trifft er irgendwann auf Panzer mit US-Stern. Statt aber gleich seine Rückkehr nach Paris zu betreiben, meldet sich der Ex-Häftling zum Weiterkämpfen. Erst am 8. Mai 1945 trifft er in Paris ein.
Dann beginnt sein zweites Leben, die diplomatische Laufbahn. Buchenwald habe ihn zum Europäer gemacht, sagte Hessel in Weimar. In den Lagern habe er den Kosmopolitismus erlernt. Nun bleibt er auf dieser Spur. Das Erlittene wird in Erkenntnis und konstruktive Arbeit umgesetzt. Er erhält einen Posten beim Generalsekretär der Vereinten Nationen, 1948 wird die „Allgemeine Erklärung der Menschrechte“ verabschiedet, an der er mitgearbeitet hat – die Menschenrechte werden zur Leitlinie seines gesamten politischen Engagements. Jahre bei den Vereinten Nationen und im Dienst des französischen Außenministeriums folgen. Im Windschatten de Gaulles ist er den Unwägbarkeiten der vielen Regierungswechsel ausgesetzt. Dank seines zähen Idealismus´ glaubt er aber trotz aller Rückschläge an die Wirksamkeit diplomatischen und politischen Tuns. Die Verleihung der Würde eines Ambassadeur de France 1981 durch François Mitterand belohnt ihn dafür. Nach seiner Pensionierung 1982 aber geht es erst recht los – getrieben von seinem Unmut über die Schäden der zunehmenden Globalisierung, mischt er sich energisch in die Politik ein und findet zu einer neuen öffentlichen Rolle.
Nach den Ereignissen vom 11. September gründet er mit dem Soziologen Edgar Morin das „Collegium international“ zur Verhinderung von Kriegen zwischen den Zivilisationen, mit Régis Debray reist er – für den Frieden - nach Israel. 2004 unterzeichnet er einen Aufruf von französischen Widerständlern, der an die Ideale der Résistance vor sechzig Jahren erinnert (CNR, Conseil National de la Résistance), an deren umfassendes soziales Programm, an das hohe Menschenrechtsethos von 1944. In Zeiten stetigen Sozialabbaus und der Bedrohung republikanischer Werte sprach das alle Generationen an - die Älteren, deren Selbstverständnis im Mythos der Résistance gründete, wie auch die Jugend, denen der revolutionäre Impetus dieser Aufrufe imponierte. Die alten Résistance-Ideale sollten auch zur Grundlage seiner beiden Erfolgsbroschüren werden. Die protestierende Jugend Europas rund ums Mittelmeer, aber auch in Deutschland, England, Irland und, durch die Occupy-Bewegung auch in den USA, die Verlierer der Globalisierung und der Banken-, Wirtschafts- und Parlaments-Poly-Krise erheben Hessel zu ihrem Repräsentanten und Schutzheiligen. Und etwas Erstaunliches ereignet sich, das dem vermeintlich „naiven“ Stéphane Hessel recht gibt: Gerade durch ihren Aufschrei, durch ihren Verzicht auf genau definierte Forderungen setzen sich diese Bewegungen vorteilhaft von den üblichen politischen Protestbewegungen ab. Man kann sie nicht so leicht vereinnahmen. Die „Indignados“ aller Länder haben erkannt, daß ihre politische Mitsprache suspendiert wurde, jetzt wollen sie diese zurück und haben mit ihren Blockaden erst einmal ein Vakuum geschaffen, in dem freie Debatten stattfinden. In „aktiver Gewaltlosigkeit“ - ganz im Sinn des Pazifisten Hessel. Oder auch im Sinn jenes anderen zornigen alten Mannes, der für den britischen Geheimdienst tätig war, des Homo politicus und Schriftstellers John le Carré: „Was wir brauchen, ist eine friedliche Revolution des Mittelstands“ – sagte er in seiner Dankesrede, als ihm im Sommer 2011 die Goethe-Medaille in Weimar verliehen wurde.
„Tausende jubeln Stéphane Hessel zu“, meldete, sichtlich irritiert von dessen „anarchistischer Romantik“, die konservative „Neue Züricher Zeitung“ - was für eine Gratifikation für den Anti-Fatalisten und Fundamental-Demokraten! Was für eine Lektion für uns alle: geradezu parabelhaft führt Hessel uns vor, daß das konsequente Festhalten an einfachen ethischen Grundwerten sich bewährt, daß sich der Diplomat mit dem Rebellen kreuzen muß, damit der sprudelnde Geist des Engagements nicht im Champagnerglas versickert, daß die Integrität einer moralischen Haltung die Voraussetzung für die geistige Kohärenz eines Lebens ist.
Es kommt aber noch etwas hinzu. Als Moralist und „guter Mensch“ allein könnte Stéphane Hessel das Programm seines Lebens nicht durchhalten, er wäre irgendwann als „moralinsauer“ eingestuft worden oder in Bitterkeit versunken. Da mußte noch ein Mehrwert hinzukommen, der der streitbaren und rationalen Außenseite dieses Mannes etwas Erstaunliches, Rätselhaftes hinzufügte. Der Herr Botschafter wies auf die „Eleganz“ hin, mit der Hessel auch die schlimmsten Lebensstufen gemeistert habe; das ist richtig, aber Eleganz ist nur möglich durch gewisse künstlerische Eigenschaften, durch einen anderen inneren Kompaß.
Die Pfade seines Lebens zurückverfolgend, finden wir erneut seine Mutter als Quelle dieser „anderen“ Eigenschaften. Sie hat ihm nicht nur eine Glücksmoral gepredigt, die er als Auftrag verstand und die wie eine self fulfilling prophecy wirkte. Wer sich als Glückskind einstuft, wird auch zu einem solchen. Sein Überleben in den Lagern hat das bewiesen und sein unerschütterlicher Weltoptimismus ebenfalls. Seine Mutter war es aber auch, die ihm eine ungewöhnliche poetische Empfindsamkeit vermachte und ihm damit ein weiteres Überlebensinstrument an die Hand gab. Schon bevor er lesen und schreiben konnte, ließ sie ihn Gedichte auswendig lernen; schnell begriff er, daß sein Liebeswerben besonders erfolgreich war, wenn er rezitierte – auch wenn ihm nur der Klang gefiel und der Inhalt dunkel blieb. Der Klang eines Gedichts, das „phonetische Vergnügen“ an einem Gedicht ist ihm vielleicht das Wichtigste geblieben, neben allen rhythmischen und konstruktiven Parametern von Poesie. Hat jemand die Gedichtsprache je so körperlich empfunden wie er? Die Probe auf die Wahrheit eines Gedichts müsse, nach Hessel, so sein, daß sich, sagte man es stumm beim Rasieren auf, „die Bartstoppeln sträuben“. Die körperliche, rezitatorische Verlebendigung von Dichtung ist denn auch seine Sache geworden. Vielleicht hätte er Schauspieler werden sollen, sinnierte er einmal. Vom Schauspieler zum Flaneur - wie Vater Franz Hessel es gewesen ist - , vom rhetorischen Gedächtnisvirtuosen zur eleganten Lieblingsfigur der Gesellschaft - wie seine Mutter eine gewesen ist -, wäre es kein großer Schritt gewesen. Die Fähigkeit zu einer forensischen Rollenverkörperung wie Marc Anton hat dem Moralisten jedenfalls die besondere Eleganz gegeben, die zur Durchsetzung in dieser Welt notwendig ist.
„Ô ma mémoire“ heißt das ungewöhnliche Buch, in dem er über die „nécessité“ des Poetischen in seinem Leben Auskunft gibt. Ein wunderschönes Buch, ein Selbstporträt in Gedichten aus drei Sprachen, das begreifen läßt, wie Gedichte eine Zeitordnung stiften können (eine U-Bahnstrecke bemißt sich nach einem „gemächlich gesprochenen Shakespeare-Sonett“) oder wie sie das biographische Gedächtnis strukturieren. Er weiß meistens genau, welcher Lebensabschnitt, Lebensmoment mit welchen Gedichtzeilen korreliert. Trifft er nach Jahren einen Leidensgenossen aus dem Lager, so rufen sie einander die Gedichtzeilen zu, die sie damals im Elend fasziniert hatten. Gedichte sind die magische, imaginäre Sphäre, in die er eintaucht, um die Zeit heraufzuholen, sie sind aber auch Beschwörungsformeln, um die Zeit auszuschalten. Die schlaflosen Nächte auf der engen Pritsche im Lager Rottleberode hat er durchs Wiederholen des Poeschen Gedichts „The Raven“ erträglich gemacht, dessen Refrain, das berühmte Nevermore – so Hessel – „dazu angetan ist, eine Art heiterer, schlafähnlicher und vergleichbar wohltuender Gelassenheit zu erzeugen“. Auch bittere Refrains können also sanfte, wiegenliedähnliche Wirkungen entfalten. Ähnlich hat ein anderes Todesgedicht auf ihn gewirkt - „Le cimetière marin“ von Paul Valéry, „mit dem ebenfalls gleichmäßigen Ablauf seiner Strophen diese wunderbare beruhigende Wirkung in den eisigen Baracken von Buchenwald, Schönebeck, Rottleberode und Dora.“ Die Dichtkunst erfüllte jene Funktion, die einst den religiösen Texten vorbehalten war. Noch heute sagt er vor dem Einschlafen Gedichte auf. Gedichte sind seine Gebete.
Ein Jugendgedicht von Rilke war das erste Gedicht, das er auswendig lernte. „Hier fand die erste poetische Befreiung des Kindes statt, das stolz war, ein so langes Gedicht wie Die heiligen drei Könige aufsagen zu können.“ Das frühe Befreiungsgefühl hat ihn in seinem Gedächtnis ein Glücksreservoir von über hundert Gedichten anlegen lassen. Dieses Reservoir übersteigt die Kapazitäten seines bewußten Ichs, er nennt es deshalb sein Mehr-als-Ich. Das Bild eines in seiner Paradoxie unüberbietbaren Vorgangs drängt sich auf: Als die Bomben der Alliierten auch Weimar gefährdeten, bestellte der Oberbürgermeister der Stadt bei den KZ-Häftlingen Dutzende von großen Holzkisten, in denen das Erbe der deutschen Klassik sichergestellt wurde. Die Schätze der Kulturnation wurden von jenen geborgen, die von derselben Kulturnation zur Vernichtung bestimmt waren. Hessel gehörte zu jenen, die das kulturelle Mehr-Ich seiner Geburtsnation vor dem kämpferischen Einsatz der Nation gerettet hat, deren Bürger er war. Es ist eine Ehre für die Académie de Berlin, der Jahrhundertfigur Stéphane Hessel ihren Preis geben zu dürfen.
Laudatio anläßlich der Verleihung des Prix de l’Académie de Berlin an Stéphane Hessel am 29. November 2011 in der Akademie der Künste Berlin