2022

Dr. Nils Minkmar - Laudatio auf Yasmina Reza

Wenn man morgens aufsteht, sich anzieht und aus dem Haus geht, um eine Laudatio auf Yasmina Reza zu halten, ist es schwer, sich nicht vorzukommen wie so ein mittelalter Mann, der sich unbeholfen und gedankenarm aufmacht, um eine Laudatio auf Yasmina Reza zu halten. Man sieht sich also selbst als Figur in einem Stück von Yasmina Reza.
Und hört sich schon, mit abgenutzten Begriffen und hohlen Phrasen jonglieren in der Hoffnung, das Publikum zu bezaubern, während man doch nur schwer verständlich herumfuchtelt, die Gedanken der Anwesenden zum Mittagessen fliehen und die so geehrte Mühe hat, ihr berühmtes Lachen zu unterdrücken.
Reza gehört zu jenen Künstlerinnen, die unseren Blick auf die Welt und vor allem auf uns selbst verändern. Wer ihr Stück Kunst gesehen hat, wird nie mehr dem Gespräch über moderne Kunst so brav und bemüht wie zuvor folgen. Wer Kinder hat und die Eltern der Mitschüler trifft, wird, nachdem er den Gott des Gemetzels gesehen hat, die Situation ganz anders empfinden, denn er wird sich selbst wie eine Figur von Yasmina Reza vorkommen.
Das Werk der 1959 in Paris geborenen Schriftstellerin ist völlig einzigartig und entzieht sich einer Klassifizierung. Sie feierte als Dramatikerin uns allen so gut bekannte Erfolge, aber mir persönlich ist ein Buch über den politischen Betrieb sehr wichtig L'aube, le soir ou la nuit, auf Deutsch erhältlich als Frühmorgens, abends oder nachts. In ihm beschreibt sie ihre Erfahrung im Wahlkampf mit Nicolas Sarkozy und so gelingt ihr das Porträt eines politischen Parteiensystems, das kurz vor seiner Auflösung steht – es aber noch nicht weiß. Mit jedem Jahr, indem die große Konfusion der französischen Politik weiter tobt, ist diese Lektüre wertvoller.
Nach der Kunst, der Erziehung, der Familie und der Politik hat Reza ein weiteres Thema in ihren spöttischen und daher aufklärerischen Blick genommen, die Erinnerung.
Wo wüsste man besser, wie wichtig eine Erinnerungskultur ist, als in der deutschen Hauptstadt? Wie ernst und angestrengt wie Gedenken – dass das auch seine absurden Facetten hat, daran traute sich niemand zu erinnern.
Reza fügt in ihrem Roman Serge diesem Thema eine weitere Dimension hinzu: Was eigentlich, wenn man lachen muss? Was, wenn eine Lehrerin, die ihre Klasse durch eine Gedenkstätte am Ort des ehemaligen Vernichtungslagers Auschwitz führt, plötzlich, wenn abermals von den dort stattgefundenen Gräueln die Rede ist, so loslachen muss wie noch nie und sich nicht mehr beruhigt, bis sie den Raum verlassen muss? Lachen in Auschwitz. Über die Gravitas, die aufgesetzten Mienen, die improvisierte Feierlichkeit der Besuchergruppen, für die alles, auch diese irdische Hölle, Tourismus ist.
Yasmina Reza betrachtet in diesem dichten, nicht allzu langen Buch eine Familie von heute. Zwei Brüder und eine Schwester in den besten Jahren, jüdische Vorfahren, kompliziertes Privatleben – der ganz normale Wahnsinn des Alltags im Großraum Paris. Sie alle sind nicht gerade in ihrer persönlichen Bestform, aber es könnte schlimmer sein, nämlich so, wie es den Alten im Roman ergeht. Die Legenden ihrer Kindheit verlieren Glanz und Kraft, werden bettlägerig und kraftlos, noch dazu bevormundet. Die greise Mutter der Drei wird sogar dazu überredet, nach einem ohne Sport verbrachten Leben auf ein Trainingsrad zu steigen, auf dem sie die Haltung der Tour de France-Fahrer einnimmt, weil sie keine andere kennt. Viel vermochte sie zuletzt nicht mehr, aber sie hielt mit ihren sonntäglichen Mittagessen doch die Familie zusammen. Und nun? Als wäre die Lage der Familie nicht komplex genug, lassen sie sich dazu überreden, gemeinsam nach Polen zu reisen, um die Gedenkstätte Auschwitz zu besuchen.
Reza beweist ihre ganze atemberaubende Virtuosität, indem sie aus diesem von Anfang an schrägen Vorhaben nicht allein wirklich komische Literatur macht, sondern mehr, eine Meditation über die Ungeschicklichkeit des Menschen auf Erden. An mehreren Stellen bezeichnet sie ihre Arbeit als Kritik der Existenz, es ist ein philosophisches Unterfangen mit literarischen Mitteln. Ihr Ansatz hat dabei etwas von der Existenzphilosophie des vorigen Jahrhunderts, von Edmund Husserl, Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre. Denn die hehren Motive und Absichten, die sich das Bewusstsein so zurechtlegt, kontrastieren mit den Stimmungen, Launen und Befindlichkeiten des im schwitzenden oder frierenden, hungrigen oder nervösen Körper verhafteten Menschen. Man möchte sich als guter Mensch, als, wie Sartre sagen würde, in seiner Existenz irgendwie „begründeter“ moralischer Agent seiner Zeit sehen – aber dann ist man genervt von den anderen Touristen, kann das Thema nicht mehr hören und hat Durst oder Sehnsucht nach zu Hause.

In der Gedenkstätte soll man empfinden, erkennen, sich verändern – aber die ProtagonistInnen dieses Buchs stolpern über das Gelände wie durch ihren Alltag. Serge, der ältere Bruder, trägt einen Anzug, obwohl es in jenem April sommerlich warm ist. Zugleich ist er nicht in Form, möchte gerne abnehmen und fühlt sich bedrängt, gestresst. Seine Tochter Joséphine, die den Besuch gewünscht und organisiert hatte, ist enttäuscht, dass er die Räume immer sofort verlässt, weil es ihm zu warm wird. Sie fragt „Ist es Dir nicht zu heiß, Papachen, in deinem Anzug?“ „Doch, doch, aber in Auschwitz werde ich mich nicht beklagen!“ Später fürchtet er, einen Infarkt zu erleiden und zündet sich zur Beruhigung erstmal eine Zigarette an. Die einen Mitglieder der familiären Reisegruppe wetteifern darum, wer am schnellsten hintereinander unfassbar oder schrecklich sagen kann, die anderen verwiesen darauf, dass es das alles doch immer noch gibt, in den Knästen von Syrien oder Pakistan.
Um einen so unterhaltenden, schimmernden und immer wieder überraschenden literarischen Effekt zu erzielen, legt Reza wie eine japanische Lackkünstlerin unendlich viele Schichten übereinander. Da ist die Nostalgie nach der Generation der Eltern, in dieser Geschichte sind es jüdische Veteranen des einstigen Mitteleuropas. Ihr Lebensthema war die Vielfalt, die verkörperte Diversität an Kulturen und Nationen, der Zukunftsoptimismus, die Reisen. Doch die jüngeren Mitglieder der Familie suchen Identität, eine Geschichte und möchten ihr ganz persönliches Ding machen. Auschwitz, auch wenn der Besuch als touristische Groteske beschrieben wird, die zugleich enttäuscht und überfordert, ist die schwarze Sonne, unter der sich alles abspielt. Die Erinnerung ist nicht zu bändigen, sondern entwickelt auch all die Jahre danach eine Energie, die uns überfordert.
Es gibt keine dem Grauen der Shoah angemessene moralische Empfindung, keine Lebensreform, die davon entbinden würde, sich immer wieder an eine Interpretation der Taten und ihrer Folgen.
Serge hat für sein Publikum keinen Ausweg parat, keine zehn tollen Tipps für ein Leben nach dem Holocaust und dem Versterben der Zeitzeuginnen, aber gerade in dem Yasmina Reza lustvoll die Vergeblichkeit aller Strategien, damit klarzukommen demonstriert, indem sie alle postmodernen Identitätssuchen souverän im Abseits enden lässt, eröffnet sie einen eigenen Weg, den der Literatur.
Eine Kritik der Existenz hat Reza ihre Arbeit also bezeichnet. Und in dem sie diese vornimmt, an unsere irdische Unbeholfenheit, Überforderung und Ratlosigkeit erinnert, spendet sie auch Trost, denn diese mangelhafte Existenz teilen wir alle und wenn wir Reza lesen und über uns selbst lachen, erscheint zwischen den Zeilen eine Botschaft Du bist nicht allein. In diesem verbindenden Sinne ehren wir Yasmina Reza mit dem diesjährigen Prix de l'Académie de Berlin.

Nils Minkmar