Dr. Nils Minkmar – Laudatio auf Annie Ernaux
Schokolade macht uns glücklich und die ersten Kastanien, der erste Schnee – aber wie ist das mit Büchern? Macht Literatur uns glücklich? Heute, da viele Verlage ihre Titel mit Instagram Kampagnen bewerben, wo die hübschen Hardcoverbände dekorativ neben Kerzen, Teetassen und Katzen bewundert werden können, da wir in einer glückssüchtigen Gesellschaft leben, scheint sich das als neue Funktion des Lesens zu etablieren. Neu ist diese Debatte nicht.
Franz Kafka empörte sich gegen seinen Freund Oskar Pollak, der in einem Brief die Meinung vertrat, Bücher müssten glücklich machen. Kafka antwortete ihm am 27.Januar 1904: “Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder vorstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.”
Das uns, von dem Kafka schreibt, muss nicht als pluralis majestatis und somit als eine individuelle Beschreibung verstanden werden. Er plädiert hier nicht, leider wird es oft so verstanden, für eine Literatur der Selbsthilfe oder Selbsttherapie, sondern durchaus für eine soziale und existentielle Literatur, die zunächst einmal davon ausgeht, dass es solche Eismeere auch in unseren, warmen mitteleuropäischen Gefilden gibt. Eismeere, die Männer von Frauen, die oben von denen unten, die Hauptstadt von der Provinz, den Körper von der Seele und die Worte von ihrem Sinn trennen.
Es ist natürlich ein sehr berühmtes, vom Ruhm ermüdetes, oft bemühtes Zitat von Kafka, aber ich habe keinen passenderen Schlüssel oder eher Werkzeug gefunden, um Ihnen und mir die Arbeit von Annie Ernaux zu erschließen.
Ja, mir scheint sogar, als habe Kafka schon an Werke wie jene von Ernaux gedacht, als er diesen Brief schrieb. Ist das möglich? Es dauerte dann eben ein paar Jahre, auch die Zeit hat eben ihre Eismeere.
Die Bücher von Annie Ernaux durchtrennen Grenzen, die als ewig galten und sie wendet dazu eine gewisse, eine geschickte Gewalt an. So durchbricht sie Genres, Erzählkonventionen und Lesegewohnheiten und, ganz banal, sie überwindet auch die hohen Grenzen, die immer noch nationale Leseöffentlichkeiten voneinander trennen.
Wie nur wenige französische Autoren vor ihr, hat sie das deutsche Lesepublikum augenblicklich und weitreichend überzeugt. Damit reihen sich ihre Bücher auch ein in die Tradition von magischen Büchern, die einem zeitgleich und überall begegnen, die einfach alle lesen, weil die Zeit dafür reif ist. Vor einigen Jahren war das Didier Eribons, „Rückkehr nach Reims“, dann Elena Ferrantes Trilogie aus Neapel – Herr Landgrebe freut sich nun, denn all diese Titel erscheinen, wie auch die Werke von Annie Ernaux im Suhrkamp Verlag. Es ist noch nicht lange her, da wurde gelacht, wenn der Name des Verlags fiel, nun reitet er wieder den Zeitgeist, eine Hoffnung für alle, die das auch versuchen – und gelingen konnte es dank der Arbeit von Schriftstellerinnen wie Annie Ernaux.
Aber wie macht Annie Ernaux das genau? Lassen Sie mich hier nur auf ein einziges ihrer Bücher eingehen, auf die Jahre.
Annie Ernaux wuchs in der Normandie auf. In Yvetot betrieben ihre Eltern einen Laden, in dem auch Café ausgeschenkt wurde. Das permanente Gespräch am Tresen und an der Ladentheke, in dem die große Politik ebenso verhandelt wird wie persönliche Sorgen und die Frage, was es zum Mittagessen geben wird, waren ihr eine frühe Inspiration. So schärfte sie ihren Sinn für den subjektlosen Diskurs des bescheidenen Milieus ihrer Herkunft. Sie dann hat viele Jahre der Versuche und des Studiums gebraucht, um das Faszinierende einer solchen kollektiven Kommunikation literarisch fassen zu können.
Annie Ernaux traut sich etwas: „Die Jahre“ ist ein Buch ohne Handlung und ohne Figuren. Es ist ein Geschichtsbuch und erzählt selbst keine. Ein soziologisches Buch ohne Theorie, Fußnote oder Zitat. Ein Buch über die Liebe, in dem die Männer seltsame Mitbewohner der Erde sind, die im besten Fall nicht weiter auffallen.
Bevor man es nicht gelesen hat, hält man so etwas gar nicht für möglich.
Es fällt mir nur ein einziges anderes Werk ein, das ähnliches unternimmt, Das Elend der Welt von Pierre Bourdieu. Der Meister der modernen Soziologie nähert sich der Grenze, die Sachbuch von Literatur trennt, von der anderen Seite als jene, aus der Ernaux kommt. Ihm kam es darauf an, das subjektive Leid das durch objektive Prozesse ausgelöst wird, nicht, wie er es sonst tat, in Theorien und Schaubildern zu erklären, sondern in Selbstbeschreibungen und also in Geschichten abzubilden. Pierre Bourdieu lebte nicht mehr lange genug, um diesen Ansatz so zu vervollkommnen, dass daraus wirklich Literatur geworden wäre, so schuf er immerhin eine Wissenschaft, die ihrer Zeit voraus war.
Atemberaubende , befreiende, das Eis splitternde Literatur, das gelingt Annie Ernaux mit Die Jahre: Es ist eine ausführliche und ehrliche Antwort auf eine gedachte Frage: Wie war das damals? Und der aufrichtige Versuch, die verstreichende Zeit so zu notieren, dass wenigstens Worte und Bilder bleiben von all den Erfahrungen. Das, was Marcel Proust versucht hat, aber aus der Perspektive einer linken Frau, deren Eltern ein Café in Nordfrankreich betrieben. In „Die Jahre“ gibt es keine Salons, keine Pferde, keine Barone und keine Künstler. Niemand wird berühmt. Politiker, Schauspieler, Sportler sieht man in der Zeitung und später im Fernsehen. Die Jahre und die Tage gleichen sich, der Raum ist beschränkt.
Ernaux beginnt mit Fotos. Der Leser sieht sie nicht, erfährt nicht, woher sie stammen oder wen sie zeigen. Es sind Puzzleteile: Jenes Kleid, diese Geste, dieser Ort – solche elementaren Gegebenheiten dienen Ernaux als Navigationspunkte ihrer großen Erzählung. So war es, damals ein Mädchen von elf Jahren zu sein. „Für Mädchen war die Scham eine ständige Bedrohung. Wie man sich kleidete und schminkte, man war immer >zu< irgendwas: zu kurz, zu lang, zu tief ausgeschnitten, zu eng, zu durchsichtig etc. Wie hoch die Absätze waren, mit wem man seine Zeit verbrachte, wann man aus dem Haus ging, wann man zurückkam, ob man rote Flecken im Schlüpfer hatte, man stand unentwegt unter Überwachung der Gesellschaft.“
Solche Kindheiten standen im Schatten schwerer Erzählungen. Selbst Abiturienten trauten sich kaum, in Anwesenheit von Erwachsenen etwas zu sagen. Bei Tisch dominierten die Geschichten aus den Kriegen, von den knapp überlebten europäischen wie den noch aktiven Kolonialkriegen. Sie identifiziert damit einen bis heute aktiven Komplex der französischen Kultur, die doppelte Rolle als Opfer der Deutschen und als Täter in Algerien.
Man kann bei Ernaux die Veränderung der Klassenverhältnisse studieren – dass es zwar ab den Achtzigerjahren mehr Zeug zu kaufen gab, der soziale Aufstieg aber immer schwieriger wurde. Der Zeitgeist wandelte sich, statt Fußball wurde Tennis der Sport der Stunde und der Siegeswillen der Einzelnen, nicht der des Mannschaftskollektivs, wurde gefeiert und trainiert.
Vor allem aber beschreibt sie den Ausgang der Mädchen und Frauen aus der sozialen Irrelevanz. Das 1945 erworbene Wahlrecht, die Arbeiten der beiden Simone, Veil und de Beauvoir, und die Umwälzungen nach dem Mai 1968 veränderten die Rechte, die Sprache und die Sexualität der französischen Frauen.
Es begann der lange Weg, der an jenen Punkt führt, an dem solch ein Meisterwerk wie „Die Jahre“ möglich wird. So entsteht ein Buch, das der Nostalgie eine sozialwissenschaftliche Mühe widmet und zugleich klar macht, dass es keinen objektiven Grund gibt, sich nach den Zeiten der verschwiegenen Gewalt und der umfassenden sozialen Kontrolle weiblicher Körper zurückzusehnen. Früher war meist schrecklich, dafür war die Revolte gegen diese Zustände glorreich, die Fluchten zahlreich und die dort angetroffenen Komplizinnen und Komplizen, die auch ein anderes Leben wollten, wurden wichtigste Menschen.
Annie Ernaux demonstriert in diesem wie in ihren übrigen Büchern eine Klasse, die vielen ihrer männlichen Kollegen fehlt, auch wenn die die Bestsellerlisten rauf und runter stürmen, und jedes Buch von ihnen augenblicklich übersetzt wird. Dass sie nicht längst die großen Preise dieser Welt erhalten hat, demonstriert, dass der Weg der Frauen, den sie beschreibt, in der literarischen Welt noch etwas weiter und steiler ist.
Meine Damen und Herren, obwohl wir uns Weihnachten nähern werde ich Ihnen heute nicht empfehlen, Die Jahre und andere Bücher von Annie Ernaux zu kaufen, um sie zu verschenken. Behalten sie die selbst, Lesen sie das für sich. Macht es denn glücklich? Schon – aber erst später.
Nils Minkmar