2015

Gemeinsam in und für Europa – le tandem franco-allemand

Rede der  Bundesministerin der Verteidigung Dr. Ursula von der Leyen anlässlich der  Lecture de l’Académie de Berlin 2015 am 24. Februar 2015 im Allianz Forum, Berlin

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

über die deutsch-französische Freundschaft zu sprechen ist nicht so einfach, wie man denken mag. Denn schnell ist man in Gefahr, historisch zu dozieren und sich in der endlosen Schilderung von Symbolen zu verlieren. Schnell gerät in den Hintergrund, welch hohes politisches Gut im täglichen Miteinander diese Freundschaft ist. Das sie ein Ergebnis ständigen Abgleiches und der Koordination ist. Das hinter der Freundschaft der ständige Wille zu Kompromissen steht – vor allem aber: ein ungeheuer großes Maß an Vertrauen! Der Wert unserer Freundschaft ist für uns beide, Franzosen und Deutsche, einzigartig – wir sind einander unverzichtbar.

Doch das deutsch-französische Miteinander darf sich nicht selbst genügen. Ja, es ist richtig. Europa, so wie es heute aussieht, ist ganz wesentlich von unseren beiden Nationen geprägt. Dies gilt für die europäischen Institutionen und ihre Entwicklungsgeschichte: von der Montanunion, über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft bis zur Europäischen Union in ihrer heutigen Form. Dieses „Europa“ fordert uns Deutsche und Franzosen weiterhin – mit Krisen und Risiken von Innen und von Außen.

Im Inneren war es die Wirtschafts- und Finanzkrise der vergangenen Jahre: Für Europa wahrhaft ein Blick in den Abgrund. Die Stabilisierung unserer Strukturen ist eine der größten Leistungen der vergangenen Jahrzehnte. Gelungen ganz besonders auch Dank einer engen deutsch-französischen Zusammenarbeit. Gelungen aber auch auf Basis eines gemeinsamen Verständnisses der Europäer darüber, dass Solidarität und Solidität uns alle binden müssen. Ich habe noch genau vor Augen, wie Angela Merkel am Anfang der Euro-Krise mit Nicolas Sarkozy um den richtigen Weg gerungen hat. Und wir können von Glück reden, dass mit Wolfgang Schäuble und Christine Lagarde sich zwei in geradezu einer Wahlverwandtschaft gefunden haben. Erst der deutsch-französische Zusammenschluss hat dazu geführt, dass die anderen Euro-Länder eingeschworen werden konnten auf das Verständnis, dass eine gemeinsame Währung nicht funktionieren kann mit 17 verschiedenen Haushaltspolitiken. Es brauchte einen gemeinsamen Willen für eine Politik der Konsolidierung, der Angleichung der Wettbewerbsfähigkeit (und zwar auf dem höheren und nicht niederen Niveau) und des Schuldenmanagements. Erst das hat wieder Vertrauen in die Eurozone geschaffen. Vertrauen, dass sie - trotz demographischer Probleme und hoher Sozialstandards – ein verlässlicher, innovativer und damit produktiver Investitionsort bleibt.

Alfred Grosser, dieser große Kopf und Erklärer zwischen der deutschen und französischen Kultur und Freund der deutlichen Worte, hat es kürzlich auf den Punkt gebracht: „Das Positive an Europa wird einfach nicht wahrgenommen“. Bei allen gelösten und noch existenten Problemen der Eurokrise – für mich gibt es auch eine positive Seite. Die Krise hat meine Politiker- und Publizistengeneration gezwungen, wieder eine lebendige Sprache zu entwickeln: Warum Europa wichtig ist. Was wir daran haben. Warum es sich für eine Nation lohnt, in Europa zu investieren. Wir haben wieder entdeckt, dass uns weit mehr zusammenhält als nur der Euro und die Reisefreiheit – die auch, aber eben nicht nur. Wir stehen für mehr.

Papst Benedikt hat es schön ausgedrückt: „Die Kultur Europas ist aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden.“ Und im Zentrum dieses europäischen Denkens steht der Mensch in seiner Freiheit. Die schrecklichen Anschläge von Paris haben sich genau gegen diese große Errungenschaft des Westens gerichtet. Unsere große Errungenschaft der Freiheit: Das Recht darauf, seine Meinung frei zu äußern. Das Recht darauf, seine Religion frei zu leben, sie zu wechseln oder an gar nichts zu glauben.

Die Krisen und Risiken, die von Außen auf Europa einwirken, haben wir gerade erst bei der Münchner Sicherheitskonferenz intensiv diskutiert. Ganz konkret ging es um die Frage, ob Waffenlieferungen an die Ukraine die Lage vor Ort eher verbessern oder verschlechtern würden, also um Sinn und Zweck eines Instruments unter vielen – und natürlich um die Aussichten der Lösungsbemühungen der Bundeskanzlerin und des französischen Staatspräsidenten bei ihren Reisen nach Moskau, dann nach Washington und schließlich nach Minsk. Im Hintergrund aber ging und geht es um mehr: Es geht um die Gewichte der Vereinigten Staaten und der Europäer. Bei der Lösung in der Ostukraine, einem Konflikt in Europa, einem „europäischen Thema“, geht es natürlich gleichzeitig auch um das überwölbende geostrategische Verhältnis der Vereinigten Staaten und der Russischen Föderation.

In diesem Kontext hat das deutsch-französische Tandem gezeigt, was es ist: Es ist Ausdruck für die Relevanz Europas. Vordergründiges Beispiel dafür war die ausdrückliche Unterstützung des amerikanischen Präsidenten für das gemeinsame Engagement der Bundeskanzlerin und des französischen Präsidenten – parallel zum Druck, der vom neuen US Kongress im Vorwahlkampf ausgeübt wird.

Fragen nach dem Verhältnis zwischen Europa und den USA werden gestellt. Klug hat dies Prof. Volker Perthes von der SWP jüngst bei einem Vortrag analysiert. Die USA und ihre europäischen Partner würden sich angesichts der sicherheitspolitischen Lage der Bedeutung der westlichen Allianz wieder stärker bewusst werden. Zugleich aber verschöben sich die Schwerpunkte zwischen den USA und den Europäern: Bei den USA sei wie angekündigt das Rebalancing to Asia zu beobachten, während wir Europäer die Bedrohungen der Sicherheitsarchitektur in Europa selbstverantwortlich bewältigen müssten. Je mehr wir Europäer aber Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit entwickeln würden, desto mehr würden Differenzen über das richtige Vorgehen mit unseren amerikanischen Partnern sichtbar werden.

Mich überzeugt diese Analyse, denn wir erleben das nicht nur im Zusammenhang mit der Russland-Ukraine-Krise, sondern wir haben das auch bei den Instrumenten zur Bewältigung der Eurokrise gesehen. Das schreckt mich nicht! Im Gegenteil: Für mich ist das ein Ausdruck zunehmender Reife zwischen Europa und den USA: Wir brauchen einander wieder mehr, wir wissen das auch auf beiden Seiten des Atlantik, aber wir werden uns bei den Handlungspräferenzen nicht immer einig sein. Umso wichtiger, dass das Vertrauen stimmt. Wir alle, in Washington wie in Europa, sollten dies in der Art des Umgangs miteinander ständig vor Augen haben.

Deshalb ist es auch eine der zentralen strategischen Aufgaben für das deutsch-französische Tandem, die Vereinigten Staaten von Amerika für und in Europa engagiert zu halten! Und mehr noch: Deutschland und Frankreich haben die Aufgabe und sie haben das Zeug, den Westen zusammenzuhalten! Auf der Basis der gemeinsamen Werte – nennen wir sie Einigkeit und Recht und Freiheit oder
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit: Wir teilen diese mit unseren atlantischen Partnern wie mit niemandem auf der Welt. Bei allen Schwierigkeiten gilt für mich weiterhin die Freiheitsstatue in New York als wunderbares Symbol – ein Geschenk Frankreichs an die Vereinigten Staaten anlässlich des 100 Jahrestages der Unabhängigkeit. Es geht um die gemeinsame Verteidigung der Freiheit, wie wir sie verstehen, mit einem Menschenbild, das geprägt ist von seiner Würde, nicht von seiner Funktion.

Deutschland und Frankreich – Jahrhunderte von Verflechtungen und Trennungen
mit guten Zeiten und weniger guten Zeiten, unzählige Kriege, bis zur Katastrophe der Nazi Diktatur – und Europa gewann oder litt immer mit. Dann der uns gegenüber einzigartig kluge und von französischer Seite auch menschlich so großzügige Schritt zum Miteinander in und für ein Europa. Wir sind diesen Weg schon weit gegangen – aber nicht weit genug: Wirtschaft, Währung, das europäische Recht binden uns zusammen – aber bislang lediglich in beschränkten Maße die Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Zur Erinnerung: Am Anfang des europäischen Einigungsprozesses nach dem Zweiten Weltkrieg stand eigentlich die Idee einer europäischen Verteidigungsunion, die 1954 jedoch scheiterte. Beschritten wurde ein anderer Weg: der des Nordatlantischen Bündnisses, der NATO. Es war richtig, die Vereinigten Staaten mit der Sicherheit Europas zu verklammern. Und die meisten Europäer sind in der NATO integriert und können dem unbedingten Füreinander in der Beistandsgarantie des Artikels 5 vertrauen. Dennoch: Ich bin und bleibe überzeugt: Europa muss und wird seine Integrationstiefe in Wirtschaft und Recht eines Tages um seine äußere Sicherheit komplettieren. Das Fernziel einer europäischen Armee bleibt richtig und wichtig!

Ich weiß sehr wohl, dass dies in naher Zukunft nicht umgesetzt werden kann, auch weil die Skepsis bei vielen europäischen Regierungen überwiegt – bei den Europäern selbst bin ich mir da übrigens gar nicht so sicher... Aber wir müssen unser europäisches Profil in der Sicherheitspolitik stärken. Es geht nicht um europäische Träumereien. Auch hier geht es um unsere zukünftige Relevanz! Europa ist ein globaler Akteur unter vielen. Und die Faktoren Demografie, die Entwicklungsschritte der Schwellenländer, die Magnetwirkung Asiens für die Weltwirtschaft, die Entwicklungen in Afrika, dessen Chancen hoffentlich bald seine Risiken übertreffen werden, zeigen deutlich, dass nur ein einiges Europa in der Lage sein wird seine Rolle zu behaupten. Und dazu gehört eben auch, wirklich gemeinsam für die Äußere Sicherheit zu sorgen.

Wir Europäer wissen doch, dass wirtschaftlicher Erfolg, Prosperität, Wachstum und Sicherheit zusammen gehören. Die aktuellen Herausforderungen rufen es uns doch geradezu entgegen! Sei es der Krisenbogen von Westafrika und der Sahel-Region, über Nordafrika, den Nahen und Mittleren Osten, die Arabische Halbinsel, bis Afghanistan und Pakistan. Seien es die zahlreichen instabilen Regierungen und Regionen, geplagt von der Wucht des Terrors der ISIS und der Regionalstrukturen der Al Quaida. Und in unserem Osten sehen wir mit Russland einen Akteur, der bestrebt ist, zur Machtpolitik vergangener Zeiten zurückzukehren. Völkerrechtsbruch wird als angebliche Korrektur der Geschichte gerechtfertigt, alle Register einer hybriden Kriegsführung werden gezogen und unser über Jahrzehnte gemeinsam erarbeitetes Regelwerk des Miteinanders der Staaten in Europa wird einseitig außer Kraft gesetzt. Ohne Geschlossenheit und Entschlossenheit der Europäer haben wir dagegen keine Chance.

Um all dem beizukommen, braucht Europa ein Mehr an Gemeinsamkeit in der Sicherheitspolitik – und es braucht Führung. In Europa wird dies niemals ein Land übernehmen können. Ein kluger Europäer hat einmal gesagt: Wenn in Europa eine Nation mehr sein möchte als der Zweite – dann ist der Teufel los. Der europäische Charakter von Führung ist Gemeinsamkeit. Zu dieser Art von Führung müssen wir Europäer bereit sein und diesen Anspruch an uns selbst stellen – auch Deutschland.

Bei der Münchner Sicherheitskonferenz habe ich diesen Anspruch aus deutscher Sicht als „Führung aus der Mitte“ bezeichnet. Mit diesem Anspruch gestalten wir auch die deutsch-französische Partnerschaft. Der Kern ist das Gemeinsame. Das war nicht immer eindeutig: „Wie hältst Du es mit der NATO?“, das ist eine Frage, die Deutschland und Frankreich nicht immer gleich beantwortet haben. Deutschlands Wiederbewaffnung, die Gründung der Bundeswehr vor 60 Jahren, erfolgte nach dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO – der Beitritt war Voraussetzung. Die Allianz gehört darum zur DNA deutscher Sicherheitspolitik. Ganz anders die Franzosen: Unter de Gaulle ist - heute fast vergessen - Frankreich 1966 im Eklat aus den militärischen Strukturen des Bündnisses ausgetreten, was u.a. dazu führte, dass Bündnistruppen damals ebenso überstürzt Frankreich verlassen mussten wie das NATO-Hauptquartier Paris – und bis heute noch immer in Notbaracken in Brüssel haust. Es ist nichts dauerhafter als das Provisorium…

Die Rückkehr Frankreichs in die militärischen Strukturen ab 2009 ist aus meiner Sicht ein echtes Verdienst von Präsident Sarkozy. Heute ist die volle Integration Frankreichs wieder eine Selbstverständlichkeit. Und auch hier lebt die deutsch-französische Freundschaft: bei der Schaffung einer flexibleren und schnelleren NATO; bei der Stärkung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Wir haben ferner gemeinsam angeboten, die Überwachung eines Waffenstillstands in der Ukraine durch die OSZE zu unterstützen. Wir engagieren uns gemeinsam im Kampf gegen den brutalen Terror der ISIS, bei der Ertüchtigung von Streitkräften u.a. in Mali und wir bemühen uns, Kompetenzen bei Entwicklung und Forschung in Europa zu halten.

Was ist das Besondere an unserer Beziehung? Über Jahrhunderte haben wir Europäer und allen voran wir Deutsche und Franzosen geübt und oft schmerzhaft gelernt, Interessen auszugleichen, Kompromisse zu finden und Brücken zu schlagen. Und wir haben gezeigt, dass wir Europa voranbringen können. Im Kern dessen, was uns, Deutsche und Franzosen, heute verbindet, steht der Respekt füreinander – und gerade auch der Respekt für unsere Unterschiedlichkeiten. Das Wissen um die Unterschiedlichkeiten, die Vielfalt, und der Wille, diese zu bewahren, das ist unsere große Stärke und Zukunftsfähigkeit.

Viel verdanken wir den engagierten Kennern und Vermitteln zwischen unseren Ländern und Welten, wie Ihnen, Herr Wickert, der Sie mit großer Sympathie
uns Deutschen aus Frankreich über die dortigen Eigenheiten berichtet haben
– und gewiss haben Sie vielen Franzosen auch unsere deutschen Eigentümlichkeiten näher gebracht – wir haben ja durchaus nicht wenige… Es sind diese Unterschiedlichkeiten, die die Vielfalt Europas bereichern. Je voudrais dire: Vive les différences! Dem möchte ich unbedingt die Formulierung hinzufügen,
die ein Brite geprägt hat: „The dignity of difference“. Vielleicht macht gerade dies das wahrhaft Europäische aus.

Deutschland und Frankreich haben in den vergangenen Jahrzehnten sehr viel geschafft – und wir haben gemeinsam Großes vor. Wir sind ein Paar geworden,
das sich mittlerweile ganz gut kennt, das so einiges zusammen erlebt hat, das seine Unterschiedlichkeiten durchaus auch kultiviert, das weiß, was es aneinander hat. Manchmal mögen wir unterschiedliche Träume haben…

Dazu passt schön ein Buchtitel von früher: "Un seul lit pour deux reves". In dem Buch geht es um die Geschichte der Entspannung 1962-1981. Das Zitat stammt ursprünglich von Zhou-Enlai, einem Mitstreiter von Mao und chinesischer Premier 1949 bis 1976, und ist auf die beiden Supermächte bezogen. Man kann also das deutsch-französische Verhältnis mit dem Zitat eines Franzosen bereichern, der einen Maoisten zitiert - das hat doch was. "Un seul lit pour deux reves".

Wir leben gut und gerne miteinander, wir Deutsche und Franzosen, in und für Europa.

Es gilt das gesprochene Wort